6.3 Die 'Neue Ökonomische Politik' und die Vernichtung der traditionellen Dorfgemeinschaft
Russlanddeutsche Bauern hatten Landbesitz. Sie passten daher nicht zur neuen ökonomischen Politik (NEP) der Kommunisten in Russland. Das hatte gravierende Folgen.
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zweimal Quelle 2, 4, 7 und 9, und zweimal Darstellung 2 und 4
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1. Die Neue Ökonomische Politik rettet die Bolschewiki
Russlands Wirtschaft war zu Beginn der 1920er Jahre durch die Kriege und die Maßnahmen zur Verstaatlichung von Banken und Firmen zerrüttet. Für die russlanddeutsche Landwirtschaft hatte das Dekret über den Grund und Boden verheerende Folgen gehabt. Das Recht zu privatem Landbesitz wurde stark eingeschränkt. Bauern durften statt durchschnittlich 60 höchstens noch 16 Dessjatinen Land besitzen. Und dieses Land mussten sie hauptsächlich im staatlichen Interesse bewirtschaften. Eine private Landwirtschaft durfte nicht über den eigenen Bedarf hinausgehen. Der freie Markt war abgeschafft worden. Hinzu kam die Willkür des sogenannten Kriegskommunismus. Die enormen Zwangsabgaben ließen die Bauern unruhig werden. Vielerorts rebellierten sie. Als 1921 noch eine Hungersnot drohte, musste Lenin reagieren, da der Fortbestand des revolutionären Russland gefährdet war.
Er entschied sich, seine Politik der Verstaatlichungen abzuschwächen. Dazu wurde das Konzept eines Staatskapitalismus unter der Bezeichnung 'Neue Ökonomische Politik' (NÖP) entworfen. Durch die begrenzte Zulassung einzelner Elemente einer freien Wirtschaft versuchte er, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Dabei setzte er eine Hoffnungen auch auf die wirtschaftsstarken deutschen Siedlungsgebiete. Den Bauern war es nun wieder erlaubt, mehr Land zu besitzen und die Erträge auf dem freien Markt zu verkaufen. Die Abgabenlasten wurden reduziert.
Diese Maßnahmen kamen jedoch viel zu spät, um die Hungerkatastrophe von 1921/22 noch zu verhindern. Erst nach weiteren Zugeständnissen begann sich die Wirtschaft langsam zu erholen, was zu einem baldigen wirtschaftlichen Aufblühen der Wolga- und Schwarzmeerregion führte. Für die russlanddeutschen Dörfer kamen bessere Jahre. Viele Russlanddeutsche glaubten auch an eine bessere Zukunft. Sie täuschten sich.
Quelle 1
Diese Politik wird als Neue Ökonomische Politik bezeichnet, weil sie eine Schwenkung zurück vornimmt. Wir gehen jetzt zurück, treten gleichsam den Rückzug an, wir tun das jedoch, um erst zurückzugehen, dann aber einen Anlauf zu nehmen und einen um so größeren Sprung vorwärts zu machen. Nur unter dieser einen Bedingung sind wir bei der Durchführung unserer Neuen Ökonomischen Politik zurückgegangen. Wo und wie wir uns jetzt umgruppieren, anpassen, reorganisieren müssen, um nach dem Rückzug den hartnäckigen Vormarsch anzutreten, wissen wir noch nicht.
Kulak – das war in Russland schon im 19. Jahrhundert eine Bezeichnung für reichere Bauern. Nicht selten wurde diesen wohlhabenderen Bauern auch vorgeworfen, mit unfairen Mitteln reich geworden zu sein. Die Bolschewiki erklärten seit Ende der 1920er Jahre die wohlhabenden Bauern zu Feinden der kommunistischen Ordnung. Damit fanden sie einen Sündenbock für die anhaltenden Versorgungsprobleme in der Sowjetunion. Für Stalin waren die 'Kulaken' die Schuldigen, denn sie verkauften nicht alle Erträge und boten sie auch zu großen Teilen auf dem Schwarzmarkt an. Dort konnten sie höhere Preise erlangen.
Die Ursache des Verhaltens der Bauern lag allerdings in der kommunistischen Wirtschaftsordnung: Der Staat zahlte als Aufkäufer schlecht für das Getreide. Die Bauern strebten nach höheren Preisen und pünktlicher Bezahlung, weil sie nur so ihre Höfe vor dem Bankrott bewahren konnten. Stalin aber änderte nichts an der Zahlungsmoral der staatlichen Verwaltungen oder den Preisen. Vielmehr warf er den wohlhabenderen Bauern vor, dem Volk bewusst schaden zu wollen. Sie seien Ausbeuter und Rebellen. Die Bolschewiki begannen die 'Kulaken' als die angeblich Schuldigen an der Krise zu bekämpfen. Beispielsweise sollten sie durch hohe Steuerforderungen in die Knie gezwungen werden.
Viele russlanddeutsche Bauern waren ebenfalls wohlhabend. Der staatliche Druck sollte auch ihre Wirtschaftskraft einschränken und sie zu einem Eintritt in die vom Staat organisierten landwirtschaftlichen Genossenschaften (Kolchosen) zwingen. Auf deren Erträge hatte der Staat den direkten Zugriff. Und der Druck wurde immer höher: Wer seine Abgaben nicht leisten konnte, der wurde vom Haus und Hof verjagt oder eingesperrt. Viele Bauern mussten ihren Hausrat und das Vieh verkaufen, um die hohen Abgaben leisten zu können.
Darstellung 1
Die NÖP entfachte den deutschen Unternehmergeist von Neuem. Da aber ein effizientes Wirtschaften wegen der Reduzierung der Anbaufläche nicht immer möglich war, schlossen sie sich die Deutschen zu Genossenschaften zusammen. Im Sinne der gemeinsamen landwirtschaftlichen Produktion und Wiederaufbauarbeit hielten sie auch landwirtschaftliche Kurse ab, bestellten Versuchsfelder, organisierten Viehausstellungen, Untersuchungen und Impfungen der Rinder und betrieben Meiereien, Käsereien, Buttereien und Pferdezuchten. Das Konzept war erfolgreich und hob sie über die russische Bauernschaft weit hinaus. Bereits 1926 befand sich die Mehrheit der Kolonisten in den Genossenschaften. [...] Dieses „Treiben“ und der bescheidene Wohlstand, den die Genossenschaftler allgemein erzielten, fand in Kreml keine Freunde. Vielmehr galten den Bolschewisten diese Vereinigungen als Horte des verhassten „Kulakentums“. Das Ende ereilte sie mit der Zwangskollektivierung Anfang der 1930er Jahre.
effizient: wirksam, leistungsfähig Meierei: landwirtschaftliches Gut Kulakentum: Dieser Begriff wird in den nachfolgenden Unterkapiteln erklärt.
Quelle 2
In ehrlicher Anpassung an die veränderten Bedingungen des Wirtschaftens im halbsozialistischen Russland der gemilderten Periode der neuen ökonomischen Politik Lenins (NÖP 1921-1926) hatten die Deutschen den Weg einer erfolgreichen genossenschaftlichen landwirtschaftlichen Produktion bestritten. Versuchsfelder, Viehausstellungen, landwirtschaftliche Kurse, laufende Untersuchungen und Impfungen der Kühe, Meiereien, Buttereien, Käsereien, Pferdezucht – das waren die wichtigsten Gebiete einer gemeinschaftlichen Wiederaufbauarbeit der deutschen Kolonien während dieses Zeitabschnittes – einer Arbeit die ihnen jetzt zum Verhängnis wird, da sie gerade dadurch zu „wohlhabenden Kulaken“ geworden sind.
Quelle 2
Das Gerede darüber, dass wir angeblich die NÖP aufheben, die Ablieferungspflicht einführen, die Enteignung der Kulaken betreiben usw., ist konterrevolutionäres Geschwätz, gegen das ein entschiedener Kampf geführt werden muss. Die NÖP ist die Grundlage unserer Wirtschaftspolitik und wird es für eine lange geschichtliche Periode bleiben. Die NÖP bedeutet Warenumsatz und Zulassung des Kapitalismus unter der Bedingung, dass der Staat das Recht und die Möglichkeit behält, den Handel vom Standpunkt der Diktatur des Proletariats zu regulieren. Ohne dies würde die Neue Ökonomische Politik eine einfache Wiederherstellung des Kapitalismus bedeuten, was die konterrevolutionären Schwätzer, die von einer Aufhebung der NÖP reden, nicht begreifen wollen.
konterrevolutionär: gegen die Revolution der Bolschewiki und deren politische Ziele gerichtet
Darstellung 2
Die Hungersnot rief erneut internationale Hilfeaktionen hervor, die für die Russlanddeutschen besonders aus Deutschland kamen. In Deutschland organisierte der sogenannte Reichsausschuss 'Brüder in Not' die Hilfsaktivitäten. Als Hitler im Jahr 1933 in Deutschland an die Macht kam, wurden die Hilfsleistungen eingeschränkt und die deutschen Empfänger in der Sowjetunion eingeschüchtert. Die sowjetische Presse verbreitete zum Beispiel, dass die Pakete aus Deutschland 'Hitlerhilfen' und deren Empfänger Agenten der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland seien. [...] Verhaftungen, die allein auf der Annahme von deutschen Paketen beruhten, folgten und galten oftmals als Beweis der Spionage.
Darstellung 2
Es ist ein sonniger Mittwoch im Herbst 1932. Von Weitem sieht man
schon die Staubwolken, welche die nahenden Fahrzeuge aufwerfen. Wenige
Minuten kommen sie unheilvoll zum Stehen. Es sind die
Beschaffungskommandos. Aus dem ersten Wagen steigen zwei Männer aus. Sie
gehen hinüber zum Kolchosevorsitzenden, was sie wollen, ist nur zu
klar. Das Getreide wird gewogen, zu wenig sei es. Der Vorsitzende
erklärt mehr ginge nicht, das Dorf hungere bereits. Er wird abgesetzt
und abgeführt. Unfähigkeit und Unterschlagung wird ihm vorgeworfen. Er
hatte sich erlaubt den Mitgliedern der Kolchose ein wenig Getreide als
Lohn zu geben. Während das Korn verladen wird, ziehen die anderen des
Beschaffungskommandos jeweils zweit durch das Dorf. Ihr Ziel sind die
privaten Nahrungsvorräte. Jedes Haus, jeder Winkel wird durchkämmt. Wer
Vorräte versteckt und verheimlicht, wird verhaftet, getreten,
geschlagen. Wer sich wehrt erschossen. Wer nicht zahlen kann, bezahlt
mit dem Hausrat. Nichts bleibt ihnen zum Leben, sie werden den Hungertod
sterben. Stunden später fahren sie wieder ab. Vollbeladen und manch
einem ist nicht wohl dabei als sie bei der Sammelstelle ankommen. Dort,
am örtlichen Bahnhof, steht der volle Getreidezug abfahrbereit. Morgen
rollt er gen Westen raus der Ukraine, raus aus der UdSSR und weg von der
hungernden Kornkammer des Landes.
Als Josef Stalin 1929 die Zahlen zur jährlichen Wirtschaftsplanerfüllung vorgelegt wurden, war er unzufrieden. Die Industrialisierung schritt ihm zu langsam voran. Und auch die Landwirtschaft wurde aus seiner Sicht zu langsam kollektiviert. Nur acht Prozent aller Bauern befanden sich in den Kolchosen. Insgesamt war Stalin die Sowjetunion noch zu wenig auf dem Weg zu einer kommunistischen Wirtschaftsordnung. Stalin wollte nun schnelle und rücksichtslose Veränderungen in der Landwirtschaft.
Daher bestimmte er, bis 1934 über 80 Prozent der Bauernwirtschaften in Kollektive zu überführen. Die russlanddeutschen Bauern in der Wolga-Region sollten bis 1930 alle in Kolchosen eingetreten sein. Um diese Ziele zu erreichen, wurden Zwang und Gewalt eingesetzt. Es gab Verhaftungen und Erschießungen. Die Zwangskollektivierung der Bauern bedeutete die wirtschaftliche Vernichtung der 'Kulaken'.
Für die Verfolgungen wurde eine 'Kulakenliste' erstellt. Diese enthielt keine Namen von 'Schuldigen', sondern Gesamtzahlen von 'Schuldigen' in allen Regionen. Die Liste bestimmte zum Beispiel, dass 60.000 „konterrevolutionäre Kulakenbauern“ verhaftet und in Arbeitslager gebracht werden mussten. Außerdem sollten 150.000 „Kulakenaktivisten“ in unwirtliche Gegenden ausgesiedelt werden. Darüber hinaus wurden noch Enteignungen angeordnet. Insgesamt betrafen die Kollektivierung und die Entkulakisierung eine Million Bauernhöfe mit ca. fünf Millionen Bauern. Unter den Opfern dieser Maßnahmen waren auch sehr viele russlanddeutsche Bauern. Heutige Schätzungen gehen von 700.000 russlanddeutschen Opfern aus.
Die brutale Umgestaltung der Landwirtschaft konnte nicht folgenlos blieben. Wieder gab es eine Hungerkatastrophe. Als die Machthaber in der Sowjetunion am 8. Mai 1933 die erfolgreiche Vernichtung der 'Kulaken' und den Sieg der Kollektivwirtschaften (Kolchosen) verkündeten, waren schon Millionen Menschen gestorben.
Darstellung 3
Zusammenfassung 1
Dezentralisierung und Liberalisierung durch folgende Maßnahmen:
Pflichtablieferungen wurden ersetzt durch die Einführung berechenbarer Steuern
die Abgabenlast wurde gesenkt
Beschlagnahmungen endeten
Privatinitiative wurde gefördert
Privater Handel wurde gefördert
Grund- und Bodenpacht wurde eingeführt
Einstellung bezahlter Arbeitskräfte wurde ermöglicht
Quelle 3
Sie [die Getreideeintreiber] sagen, der Plan der Getreidebeschaffung sei angespannt, er sei unerfüllbar. Wieso unerfüllbar, wie können Sie das behaupten? Ist es etwa nicht Tatsache, dass die Ernte bei Ihnen in diesem Jahr wirklich unvergleichlich gut ist? Ist es etwa nicht Tatsache, dass der Getreidebeschaffungsplan für Sibirien in diesem Jahr fast der gleiche ist wie im Vorjahr? Warum halten Sie dann den Plan für unerfüllbar? Sehen Sie sich die Kulakenwirtschaften an: Dort sind die Speicher und Scheunen voll von Getreide, das Getreide liegt, da keine Speicherräume mehr da sind, in offenen Schuppen, in den Kulakenwirtschaften gibt es Getreideüberschüsse von 50000 bis 60000 Pud je Wirtschaft, nicht gerechnet die Vorräte für Saatzwecke, Ernährung, Fütterung des Viehs, und da sagen Sie, der Getreidebeschaffungsplan sei unerfüllbar. Woher dieser Pessimismus bei Ihnen? Sie sagen, dass die Kulaken das Getreide nicht abliefern wollen, dass sie auf eine Erhöhung der Preise warten und es vorziehen, eine hemmungslose Spekulation zu treiben. […] Es gibt aber keine Garantie, dass die Kulaken die Getreidebeschaffung nicht auch im nächsten Jahr sabotieren werden. Mehr noch, man kann mit Sicherheit sagen, dass, solange es Kulaken gibt, auch die Getreidebeschaffung sabotiert werden wird. Um für die Getreidebeschaffung eine mehr oder weniger befriedigende Grundlage zu schaffen, sind andere Maßnahmen notwendig. Was sind das nun für Maßnahmen? Ich meine die Entfaltung des Aufbaus von Kollektivwirtschaften und Sowjetwirtschaften.
Pud: russisches Gewichtsmaß (16,36 kg) Pessimismus: Erwartung des Negativen Kollektivwirtschaften und Sowjetwirtschaften: Landwirtschaftsbetriebe, in die die Bauern ihr Land, ihr Vieh, ihre Gebäude und Geräte einbrachten, um gemeinsam zu arbeiten. Sie waren dann wie Angestellte. Auf diese Betriebe hatten die Kommunisten einen leichteren Zugriff. Die Bauern traten meistens nicht freiwillig diesen Wirtschaften bei. Das Wort Kollektiv bedeutet 'Zusammensetzung'
Quelle 4
Die Festsetzung der Höhe des mit der einheitlichen Landwirtschaftssteuer zu belegenden Einkommens im individuellen Verfahren wird bei den besonderen Einzelbauernwirtschaften durchgeführt, die durch ihren nichtwerktätigen Charakter und die Höhe ihrer Einkünfte aus der Gesamtmasse der Bauernwirtschaften der betreffenden Gegend hervorstechen. Zu den Kennzeichen, die den nichtwerktätigen Charakter der Wirtschaften und das Vorliegen nicht vollständig erfassbarer Einkünfte festlegen, gehören allgemein Aufkauf und Verkauf, Wucher, das Vorhandensein komplizierter landwirtschaftlicher Maschinen zu dem Zweck, aus ihrer Vermietung Gewinn zu erzielen, Führung der Landwirtschaft durch systematische Beschäftigung von Lohnarbeitern, das Vorhandensein eines gewerblichen Nebenbetriebs [...] usw.
Die Gesamtzahl der Wirtschaften, deren Einkommen individuell festgelegt wird, soll insgesamt etwa 3 % für jede Unionsrepublik betragen.
Quelle 4
Die deutschen Kolonisten leiden wirtschaftlich unter dem jetzigen System viel mehr als die Russen, da sie viel mehr zu verlieren hatten und an eine viel kultiviertere Lebenshaltung gewohnt waren. Der typische Kolonistenhof hatte vor der Revolution 8 bis 12 Arbeitspferde und 7 bis 8 Milchkühe; die Mennonitenhöfe waren noch besser gestellt. Heute hat der Normalhof von 16 Deßj. nur 2 Pferde und 1 Kuh. Der frühere Großbauer ist damit zum Kleinbauern herabgedrückt; trotzdem gilt er wegen seiner Vergangenheit vielfach noch als wohlhabend; er besitzt noch stattliche Gebäude, sein Hausrat ist ansehnlicher, er selbst hält sich besser, und dies alles macht die Steuerbehörde immer wieder geneigt, ihn bedeutend stärker zu belasten als den russischen Bauern. Dabei ist der Besitz größerer Gebäude für die auf einen Bruchteil zusammengeschrumpfte Wirtschaft zu einer, unverhältnismäßig großen Last geworden; während die russischen Bauern ihre Hütten annähernd so imstande halten können wie früher, ist dies dem deutschen Kolonisten unmöglich; je größer früher der Wohlstand war, um so ausgeprägter ist heute der äußere und innere Verfall der Häuser. [...] Bis 1927 glaubten die Kolonisten sich allmählich zu einer bescheidenen Höhe emporarbeiten zu können. Diese Hoffnung haben sie jetzt gänzlich verloren. Sie erkennen klar den Kurs der Regierung, der die Einzelbauern so herabzudrücken sucht, daß sie ihr Heil nur noch in der Kollektivierung erblicken. Die große Masse der deutschen Kolonisten lehnt indessen diesen Ausweg auf das Entschiedenste ab. Dem Selbständigkeitsbedürfnis des deutschen Bauern ist der Zwang der kollektivistischen Organisation unerträglich; ein kollektivistisches Gemeinschaftsleben würde er als Hölle empfinden. Zudem sind für ihn kollektivistische Wirtschaft und bolschewistische Gesinnung untrennbare Begriffe.
Hinweis: Der Bericht entstand auf einer Reise auf die Krim und den Bezirk Melitopol im Mai 1929.
Deßj.: Dessjatinen (1 Dessjatine=1,1 Hektar)
Darstellung 4
Stalin offenbarte während der staatlichen Beschaffungskrise seine Abneigung gegenüber den Bauern. Sie galten ihm es rückständig, unzivilisiert und einfach dumm. Außerdem gab es unter ihnen noch diese „ausbeuterischen Kulaken“. Für all jene war die Oktoberrevolution nie bestimmt gewesen, sondern sie galt allein dem Proletariat, der Arbeiterklasse. Als Motoren auf dem Weg zu Industrialisierung schienen sie dennoch gerade noch gut genug zu sein. Als ein besonderes Ärgernis galt aber, dass in den russischen und deutschen Dörfern das kommunistische Gedankengut bisher nicht Fußfassen konnte. Oftmals schrieb man das den starken und vor allem negativen Einfluss der Kulaken und damit auch der Russlanddeutschen auf die Dorfgemeinschaft zu. Es war somit absehbar, dass nur durch den Eintritt der Bauern in die Kolchosen auch eine kommunistische Durchdringung des Dorfes stattfinden konnte. Im Falle der Russlanddeutsche trieb das nur geringe Früchte, selbst Ende 1939 war nur jeder Zehnte zu einem Genossen geworden. Doch wer wollte schon in die Kommunistische Partei eintreten, die für die Enteignung des Grund und Bodens plädierten und sich überhaupt dem Terror verschrieben hatte.
Darstellung 4
Zunächst einmal braucht es einen Bauernhof, am besten mit Russlanddeutschen besetzt. Dazu muss entsprechendes Land vorhanden sein, auf dem noch russische Lohnarbeiter schuften. Nicht zu vergessen sind die Produktionsmittel von mindestens 1.600 Rubel, was zehn Pferde oder 13 Kühe entspricht, in ärmeren Gegenden kann man auch wesentlich weniger besitzen. Auf dem Markt sind überzogene Preise zu verlangen, während die Ernte vorm Staat versteckt wird, sodass Bereicherung am Volk unterstellt werden kann. Wer aber über die entsprechende Mittel nicht verfügt, dem sei nicht Bange, das bloße Widersetzen gegenüber der Staatsmacht reicht völlig aus. Auch die Nichterfüllung der hohen Getreideabgaben wird nur eine Kulake sich erlauben. Noch einfacher ist es dann 1932, eine eigene Kuh und schon gehört der Besitzer zur Kulakenschicht.
Darstellung 5
Zunächst einmal braucht es einen Bauernhof, am besten mit Russlanddeutschen besetzt. Dazu muss entsprechendes Land vorhanden sein, auf dem noch russische Lohnarbeiter schuften. Nicht zu vergessen sind die Produktionsmittel von mindestens 1.600 Rubel, was zehn Pferde oder 13 Kühe entspricht, in ärmeren Gegenden kann man auch wesentlich weniger besitzen. Auf dem Markt sind überzogene Preise zu verlangen, während die Ernte vorm Staat versteckt wird, sodass Bereicherung am Volk unterstellt werden kann. Wer aber über die entsprechende Mittel nicht verfügt, dem sei nicht Bange, das bloße Widersetzen gegenüber der Staatsmacht reicht völlig aus. Auch die Nichterfüllung der hohen Getreideabgaben wird nur eine Kulake sich erlauben. Noch einfacher ist es dann 1932, eine eigene Kuh und schon gehört der Besitzer zur Kulakenschicht.
Quelle 5
Der charakteristische Zug der Arbeit unserer Partei im letzten Jahr besteht darin, dass wir als Partei, als Sowjetmacht:
a) an der ganzen Front zur Offensive gegen die kapitalistischen Elemente des Dorfes übergegangen sind und dass
b) diese Offensive bekanntlich überaus greifbare positive Resultate gezeitigt hat und weiter zeitigt.
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir von der Politik der Einschränkung der Ausbeutertendenzen des Kulakentums übergegangen sind zur Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse. Das bedeutet, dass wir eine der entscheidenden Wendungen in unserer gesamten Politik vollzogen haben und auch weiter vollziehen.
Liquidierung: Hier ist mit dem Wort Liquidierung Vernichtung gemeint.
Darstellung 6
Die Sowjetunion zeigt sich im Februar 1930 wie gewöhnlich verschneit. Es ist Nacht in den Dörfern der deutschen und russischen Bauern. Längst ist Stille eingekehrt, als sie kommen. Sie, das sind die Komsomolzen, jung idealistisch und voller Tatendrang. Indoktriniert handeln sie im Sinne Stalins. Wie Spürhunde suchen sie die Dörfer nach Kulaken ab. Viele gibt es sagte der Genosse Stalin, darunter eine Menge Deutsche. Sie durchbrechen lautstark die idyllische Winterstille, roh und unerbittlich. Sie zerren die „Kulaken“ aus ihren Betten. Schleifen sie vor die Türen kaum bekleidet. Sie durchstreifen die Häuser und Höfe auf der Suche nach Wertgenständen, laden manches auf, einiges bleibt im Schmutz liegen. Die Familien müssen zusehen wie ihr Leben in Minutenbuchteilen in tausend Scherben zerfällt. Ihre Häuser dürfen sie nicht mehr betreten, stattdessen werden sie bei Eiseskälte aus dem Dorf gejagt, die Männer hingegen verhaftet, eingesperrt und ins Arbeitslager gebracht. Wo sie hin sollen wissen die Frauen und Kinder nicht. Die Kleidung ist kaum ausreichend, ein Proviant von den Komsomolzen oft nicht vorgesehen. Einige sind nicht in der Lage dem Wetter zu trotzen. Manche Familien, die von Nachbardörfern das zu Erwartende erfahren haben, begehen aus Verzweiflung Selbstmord, andere erst nach den Ereignissen. Die Familienangehörigen die belieben durften, wurden auf Schärfste diskriminiert, ihnen durfte nicht geholfen werden.&nb
4. Die russlanddeutschen Reaktionen auf die 'Entkulakisierung'
Wenn Regierungen ihr Volk oder eine Volksgruppe zu unterdrücken beginnen, versuchen viele betroffene Menschen, der Unterdrückung zu entkommen. Mennonitische Siedler vor allen aus Sibirien dachten an Flucht. Sie hatten Kontakte nach Kanada und in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die sowjetische Regierung wollte Landflucht verhindern und verbot den Bauern häufig die Ausreise. Proteste folgten. Diese mündeten zum Teil auch in Resignation und Gleichgültigkeit. Bald lagen den Behörden Berichte über brachliegende Felder und willentlich verendetes Vieh vor.
Diese Formen des passiven Protestes waren weit verbreitet. Manchmal gingen sie auch in aktive Aufstände über. So nahmen Protestierende beispielsweise Verwaltungsangestellte als Geiseln, um verhaftete 'Kulakenbauern' freizupressen. Manchmal führten die Protestaktionen auch zum Erfolg. Hier und da machten die örtlichen Behörden Zugeständnisse. Mitunter wurden auch Enteignungen zurückgenommen, damit Bauern in die Kollektivwirtschaft eintraten und wieder aktive Landwirtschaft betrieben. Dauerhaft waren solche Abmachungen aber nicht.
Im Kommunismus galt die klassenlose Gesellschaft als das große Ziel. Was das bedeutet? Die Kommunisten träumten von einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind. In der es keine Gruppe von reichen Fabrik- und Landbesitzern mehr gibt, die besitzlose Arbeiter und Bauern ausbeuten können. Russlanddeutsche Bauern aber hatten einen gewissen Landbesitz. Sie passten daher nicht in das politische System. Deswegen wurden die Russlanddeutschen enteignet. Und welche Folgen hatte das für ihr Leben?
Sommer 1932 waren viele deutsche Dörfer völlig verändert: Alle Wirtschaften waren kollektiviert worden und die Bauern hatten kein eigenes Land mehr. Die ehemaligen Großbauern und jene, die man für Großbauern gehalten hatte, waren vertrieben oder ermordet worden. Manche hatten auch fliehen können.
Die eilig geschaffenen Kolchosen waren wirtschaftlich nicht erfolgreich. In vielen landwirtschaftlichen Betrieben herrschte Chaos statt einer planvollen Bewirtschaftung der Felder. Vor den tödlichen Folgen der Zwangskollektivierung hatten auch führende Kommunisten gewarnt. Als 1931 eine Missernte das Land heimsuchte, geriet die Sowjetunion in eine weitere verheerende Versorgungskrise. Stalin wich jedoch nicht von seinem Wirtschaftsplan ab, sondern forderte immer höhere Getreideabgaben. Diese wurden mit Gewalt eingetrieben. Die rücksichtslose Beschaffung von Getreide machte selbst vor dem Saatgut nicht halt.
Merkkasten
Stalin hatte sich für den schnellen Aufbau eines Industriestaat und gegen einen Agrarstaat ausgesprochen. Fünf Jahre, von 1928 bis 1934, gab er seinen Land Zeit für den Umbau. Die Kollektivwirtschaften (Kolchosen) sollten die Ernährungsgrundlage sichern. Von diesen Kolchosen gab es jedoch Ende der 1920er Jahre noch sehr wenige.
Als der Fünfjahresplan in Rückstand geriet, griff Stalin mit Gewalt nach den privaten Bauernhöfen, um sie mit Zwang zu kollektivieren. Die Großbauern sollten ganz entfernt werden. Der harte Eingriff in die ländlichen Strukturen führte zu einer Hungersnot. Letztlich wurde die Industrialisierung in der Sowjetunion tatsächlich beschleunigt. Der Preis dafür waren die Zerstörung der traditionellen Landwirtschaft und 13 Millionen Todesopfer.
Quelle 6
Aus einem Bericht des deutschen Diplomaten und Professors Otto Auhagen vor dem Hauptausschuss des Vereins für das Deutschtum im Ausland (7. Juni 1930):
Auch vor dem Siege des Bolschewismus hat es Perioden gegeben, in denen sich die deutschen Kolonisten in Russland national und kulturell bedrückt fühlten, doch unvergleichlich viel schlechter ist ihre Lage in der Gegenwart. Zwar scheint die Verfassung des Rätebundes die nationalen Minderheiten zu respektieren, es gibt eine „autonome“ Wolgarepublik, und auch in den übrigen Gebieten der Union, die zusammen an deutschen Kolonisten das Anderthalbfache der Wolgadeutschen zählen, sind der deutschen Bevölkerung ebenso wie anderen nationalen Minderheiten Sonderrechte eingeräumt. Bei genauer Betrachtung schrumpft indessen diese Privilegierung auf sprachliche Duldung zusammen. In jeder sonstigen Hinsicht, wirtschaftlich, sozial, kulturell ist die Politik des Rätebundes absolut zentralistisch; gleiche Schablone gilt für sämtliche Nationalitäten. Der neue Radikalismus, der seit Ende 1927 herrscht, ist geeignet, die deutsche Kultur in den Wurzeln zu töten. Eine Tragödie sondergleichen spielt sich seitdem in den deutschen Siedlungen ab.
Privilegierung: Ausnahme von der Regel, Bevorzugung Radikalismus: extreme Einstellung, z. B. in der Politik oder in der Religion Tragödie: schicksalhafte Entwicklung, die ein schlimmes Ende nimmt
Quelle 7
„Wenn die Bauern von den Gutsländereien Besitz ergreifen wollen, wenn sie auf diese Weise die Überbleibsel der Leibeigenschaft vernichten sollen, wenn ein “Loskauf zu Vorzugsbedingungen„ sie nicht rettet, wenn die Befreiung der Bauern durch die Hände der Bauern selbst vollzogen werden soll, so gibt es keinen Zweifel, dass der einzige Weg der ist, die Gutsländereien wegzunehmen, d. h. diese Ländereien zu konfiszieren. Das ist der Ausweg. […] Es ist klar, dass der einzige Weg darin besteht, den Gutsbesitzern alle Ländereien wegzunehmen.“
Quelle 7
Ende Januar [1930] kam es in der Nähe von Pokrowsk (Republik der Wolgadeutschen) zu Zusammenstößen zwischen Kommunisten und deutschen Kolonisten. Ein Kommunist, der eine Hetzrede gegen die deutschen Kolonisten hielt, wurde verprügelt und lebensgefährlich verletzt. Die GPU nahm daraufhin zahlreiche Verhaftungen vor. In Pokrowsk sind 620 sowjetische Kommunisten aus Leningrad eingetroffen, die einen großen Propagandafeldzug für die Auslöschung der individuellen Bauernwirtschaften führen sollen. Bei dem Eintreffen des Zuges mit den Kommunisten kam es zu erregten Szenen, da die deutschen Kolonisten gegen die Entsendung dieser Kommunisten Einspruch erhoben und forderten, dass die Kollektivierung der deutschen Bauernwirtschaften in der Wolgarepublik auf unbestimmte Zeit vertagt werde.
GPU: seit 1922 die Bezeichnung der Geheimpolizei der Sowjetunion
Darstellung 7
Im Februar 1931 stand die Wolgarepublik mit 95 Prozent an der Spitze des neuen„Fortschritts“. Sie galt als „Musterrepublik der kompakten Kollektivierung“ und war die erste Verwaltungseinheit, die komplett unter Staatskontrolle gebracht wurde. Der Landesdurchschnitt lag zu dieser Zeit bei 25 Prozent.
Quelle 8
Der deutsche Diplomat Otto Auhagen gibt einen Bericht für den Sommer 1929 wieder, der die Auswanderungsbewegung aufgrund der Entkulakisierung und Kollektivierung schildert:
Die Hoffnung auf bessere Zeiten schwinden im Volk immer mehr. Reichsdeutsche Kolonisten, die seit Jahrzehnten in Russland wohnen, Schweizer, die im Kaukasus an der Hebung der Milchwirtschaft wirkten, verlassen scharenweise das Land, und überaus groß ist die Zahl nicht nur der fremdstämmigen, sondern auch der russischen Bürger der Union, die lieber heute als morgen Abwandernden folgen würden.
In einem weiteren Bericht vom 27. März 1930 heißt es:
Die deutschen Bauern erblicken überall ihre einzige Rettung in der Auswanderung […]. Verzweiflungsaktionen größeren Maßstabes wird voraussichtlich dadurch noch Vorschub geleistet werden, daß im Frühjahr in vielen Bezirken Hungersnot eintreten wird. Die Furcht vor großen Unruhen trägt dazu bei, reichsdeutsche Kolonisten zur Rückwanderung zu bestimmen.
Quelle
„Der Odessaer Bezirk, den ich nach verschiedenen Richtungen bereist habe, hat eine Mißernte zu verzeichnen, die mindestens so schlimm ist wie 1921. […] Die Mißernte trifft ein Gebiet, das durch die neueste Agrarpolitik, insbesondere durch die Methoden der im Januar begonnenen Getreidekampagne, durch den Steuerdruck einschließlich der “Selbstbesteuerung„, durch die Aufdrängung der Bauernanleihe und durch die in zahlreichen Fällen verhängten hohen Geldstrafen aufs Schwerste mitgenommen worden ist. Dabei hält der Steuerdruck noch an, oder richtiger: nach der neuen Veranlagung hat er sich noch sehr verschärft, wenigstens für die leistungsfähigeren Kategorien der Bauern. […] Gegenwärtig ist, soweit ich nach meinen persönlichen Eindrücken und Aussagen meiner Gewährsmänner urteilen kann, die Lage in den deutschen Kolonien noch erheblich besser als in den russischen Dörfern. Bei den Russen, besonders bei den in den letzten Jahren zahlreich angesetzten Neusiedlern, herrscht größtenteils schon bittere Not, die sie übrigens bereits im Frühjahr kennen lernten, als ihre Getreidevorräte zu Ende gingen, Rückhalt bei den größeren Bauern, insbesondere den deutschen Kolonisten infolge deren Ausplünderung nicht möglich war und die von der Regierung versprochene Hilfe nur sehr kümmerlich ausfiel.“
Zusammenfassung 2
klassenlose Gesellschaft
Vernichtung der Großbauernschicht
Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln
Schaffung von sozialistischen Großbetrieben
uneingeschränkte Zugriffsmöglichkeiten auf hergestellte Produkte
Beschleunigung der Industrialisierung
Verbreitung und Festigung der kommunistischen Ideologie auf dem Land
Quelle 9
Otto Dreit, 1921 in Saratov geboren, erinnert sich an den letzten Besuch seines Nachbarn während der schrecklichen Hungerkatastrophe von 1932/33:
In unserem Hinterhaus wohnte der Hausmeister, ein Deutscher. Mit seiner Frau, einer Russin, hatte er vier Kinder. Wir Jungs nannten ihn immer nur Onkel Paul. Ausgangs des Hungerwinters, wohl so im März, kam er früh in unsere Wohnung. Ich hätte ihn fast nicht erkannt. Fahlbleich, abgemagert zum Skelett mit tief liegenden Augen stand er in unserer Küche und bat meine Mutter mit leiser, zitternder Stimme um ein Stück Brot. Mutter fragte ihn gleich nach der Frau und den Kindern. Weinend erzählte er, dass Gott sie zu sich genommen habe. Seit drei Tagen hätte er nichts mehr gegessen, er könnte es nicht mehr aushalten. Obwohl ich noch ein Kind war, bemerkte ich sehr deutlich, wie er sich des Bettelns wegen schämte. Unsere Essenration war auch äußerst knapp. Mutter teilte jedem ein kleines Stück Brot am Morgen zu, für den älteren Bruder, der arbeiten ging, hatte sie die Ration im Schrank verschlossen. Wortlos ging sie nun, als sie das Elend des Hausmeisters sah, und schnitt für ihn die Hälfte des für den Bruder bestimmten Brotes ab. Onkel Paul dankte mit Tränen in den Augen. Den angebotenen Tee lehnte er ab. Er wankte, sich mit der Hand an der Wand haltend, auf den Hof. Wenig später ging ich zur Schule und sah ihn am Tor auf der Bank sitzend. Einen Bissen Brot hatte er noch im Mund, das restliche hielt er fest in der Hand. Vor Entkräftung war er eingeschlafen. Als ich am Mittag aus der Schule nach Hause zurückkam, saß er noch immer so da, mit dem Brotkrumen im Mund. Nur das Stückchen Brot war ihm inzwischen von einem anderen Hungrigen aus der Hand genommen worden. Ich stand eine Weile vor ihm, ohne zu begreifen, was passiert war. Schließlich sah ich Insekten über sein Gesicht laufen, erst da erkannte ich: Der Hungertod hatte auch Onkel Paul ereilt.
Quelle 9
Nicht immer wurden die Bauern darüber informiert, dass sie den Hof zu einem festgesetzten Termin verlassen sollten. Oftmals kamen die Komsomolzen einfach in der Nacht. Dieser deutsche Bauer hatte es da ein wenig „besser“.
Benachrichtigung. An den Bürger A. B. des Dorfes C des Deutschen Dorfrats. Das Rayon-Vollzugskomitee, auf Grund der Anordnung der Regierung und im Einverständnis mit dem Beschluss der Bürger über die Aussiedlung kulakischer Wirtschaften aus den Dörfern der völligen Kollektivierung, benachrichtigt Sie, dass Sie mit Ihrer Familie zur Aussiedlung aus dem Dorfe C an einen neuen Wohnort bestimmt sind. Zur Vorbereitung auf die Aussiedlung der Familie wird Ihnen eine eintägige Frist gewährt, wobei Sie das Recht haben, Geld bis zu 500 Rubel mitzunehmen, ferner Verpflegung auf 2 Monate, Hausgeräte, Handwerkszeug, Winter- und Sommeranzug und Wäsche. Im ganzen darf jedoch das Gepäck 30 Pud nicht überschreiten. Näheres wird Ihnen der Bevollmächtigte des Rayon-Vollzugskomitees, Genosse N. N. erklären, nach dessen Anweisung Sie mit der Familie und den gepackten Sachen am 29. März um 9 Uhr fertig sein müssen. Zu jener Stunde werden Pferde für Ihre Fracht und Familie bereit stehen. Sie werden verwarnt bezüglich aller Folgen der Nichtvorbereitung, etwaiger Fluchtversuche oder der Versuche des Ungehorsams gegen den Dorfrat und den Bevollmächtigten des R.V.K, und auch insofern, dass im Falle Ihrer Flucht Ihre Familie ausgesiedelt werden wird. Der Vorsitzende des . . . R.V.K.„
Der Vorsitzende des . . . R.V.K.“
Quelle 10
Vor 2, 3 Monaten hat das tolle Leben bei uns angefangen. Hunderte Familien hat man auf die Straße geworfen auf die allergrausamste Art und Weise. Uns jungen Wirten, die wir ja doch erst 4 1/2 Jahre wirtschaften, hat man alles, alles weggenommen und zwar 3 Kühe, 2 Pferde, 3 Schafe mit 2 Paar Pferdegeschirr, einen Wagen, ein Füllen, einen Selbstbinder, eine Haspelmaschine, eine Putzmühle, 2 Pflüge, 3 Eggen, 2 Fässer, 20 Wedro 2jährigen Weines, 25 Wedro 1jährigen Weins, Herbstgeräte, Weingeräte, wie Presse, Trichter, Schlauch, Eimer, sodann die Ernte in Futterrüben, Stroh, Welschkornlaub, Kurzfutter, mit einem Wort alles, alles, alles. Das war noch der Rest von dem, was uns im Sommer gelassen wurde. Damals haben uns die Herren gezwungen, alles hinauszuführen, so daß der Hof nur noch ganz kümmerliche Reste aufwies. […] Ja, unsere Lieben, das wäre noch nicht das Schlimmste. Das Allerschlimmste ist aber, daß sie uns mitten im Winter bei 15 Grad Frost aus dem Hause gejagt haben und die Türe hinter uns zuschließen. […] Ich und meine Frau mit meinen Kindern und ein verlassenes fremdes Mädchen mußten zu Fuß in ein anderes Dorf gehen. Dort hat uns kein Mensch aufgenommen, und so gingen wir weiter zum Bahnhof. Selbst bei unseren Eltern können wir nicht bleiben, denn seit 2 Tagen haben sie die Nachricht, daß sie dasselbe Schicksal erwartet, wie es uns getroffen hat. Heute schreibe ich noch den Brief, und morgen wandern wir wieder zu Fuß weiter bis wir verhungern und erfrieren. [...] Das Furchtbarste ist, daß bei a l l e n die Lage sehr, sehr schlecht ist und alle Menschen furchtbar arm sind. Das vergrößert unser Elend noch mehr. Man kann nicht mehr betteln, weil niemand einen Groschen oder ein Stückchen Brot übrig hat. Alle Bauern, die kein Stimmrecht mehr haben, bekommen auch keine Stelle. […] Was war ich denn für ein Bauer mit solch einer kleinen Wirtschaft! Ich habe doch von meiner Wirtschaft genug Nutzen für den Staat gebracht. Ich habe doch gewiß meine Pflicht getan, wenn ich jährlich 400—500 Rubel dem Staat bloß als Auflagen und Steuern bezahlt habe. Im letzten Sommer habe ich dem Staat alles, alles gegeben und bevor man mich herausgeschmissen hat noch 1 Kuh und Geräte verkauft, um im Schleichhandel Getreide zu kaufen und es abzuliefern, weil man mir immer sagte, ich hätte mehr geerntet. Und für das alles schmeißt man mich jetzt im Winter heraus auf die Gasse als einen ganz untauglichen gefährlichen Menschen, der bloß leidet, weil er gearbeitet hat. [...] Zum Schluß möchte ich Euch alle bitten im Namen aller Verunglückten, daß Ihr unser Elend in ganz Deutschland verbreitet. Geht zu allen Euren Verwandten und Bekannten, zu allen Mitchristen und Glaubensgenossen, geht zu allen deutschen Menschen und sagt, was ihr gehört, schreit unser Elend heraus, sagt es den Regierungen. Möchte die Welt doch sich unserer annehmen und unsere unmenschlich schwere Lage sich vergegenwärtigen. Schreibt diese Zeilen, die mit Blut geschrieben sind, an alle Zeitungen, daß sie es verbreiten. Im Namen vieler ruinierter deutscher Kolonisten bitten wir innigst uns zu helfen. Ein auf die Straße Geworfener . . ..
Aufgabe 1
Beschreibe den Unterschied zwischen der NÖP und der Grundidee des Kommunismus.
Diskutiert in der Klasse die Gründe Lenins für die Einführung der NÖP. Notiert eure Ergebnisse.
Aufgabe 2
Die deutsche Minderheit war auch unter der kommunistischen Ideologie erfolgreich. Finde Gründe dafür, warum der Erfolg für die Russlanddeutschen zum Problem wurde. Lies dir dazu die Darstellung 1 aufmerksam durch und beziehe auch den Dialogtext in deine Überlegungen ein.
Aufgabe 3
Vergleiche Quelle 2 mit Quelle 6. Arbeite die Veränderung in den Positionen heraus und bewerte das Vorgehen Stalins.
Setze dich mit der Formulierung „wolgadeutsche Autonomie“ auseinander.
Schließlich kam es wie es kommen musste, die Sowjetunion wurde 1932/33 von einer fürchterlichen Hungernot heimgesucht. Erneut wütete sie am schrecklichsten in diesen ertragreichsten Gegenden des Landes. Stalin hatte nichts von der vergangenen Hungernot gelernt! Schlimmer noch, das Ausland sollte nichts von der Not der Bevölkerung und der Schwäche des 'überlegenen' Kommunismus erfahren, denn die Getreideexporte waren nicht zu gefährden. Schließlich drangen die Nachrichten über die Grenzen, so das Stalin mit gemischten Gefühlen und unter internationalen Druck die Einfuhr von internationalen Hilfspaketen und die Arbeit von Hilfsorganisationen zu ließ. Doch die Angst vor der mitgelieferten Propaganda erwies sich bald größer als die Sorge um das hungernde Volk. So wurden die Hungerhilfen überwacht und nach kurzer Zeit strengstens limitiert.
Aufgabe 4
Ordne die Informationen aus dem Diagramm 'Getreideexporte der Sowjetunion 1928-1933' in die Zeit der Entkulakisierung und ihrer Folgen ein.