3.1 Über Identität

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§ Cc4

Wer bin ich denn überhaupt?

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3.1 Über Identität

"Wer bist du?" – Eigentlich eine sehr einfache Frage, die dennoch nicht leicht zu beantworten ist. Ich habe das Gefühl, immer wieder jemand ganz anderes zu sein. Ich gebe auf die Frage unterschiedliche Antworten. Je nachdem, ob sie mir in einem Bewerbungsgespräch oder auf einer Party gestellt wird. Wenn ich sie mir selber stelle, bin ich je nach Gefühlslage, einmal ein jämmerlicher Versager und in einem anderen Fall ein toller Typ. Hinzu kommt, dass andere Menschen mich in meiner Meinung auch sehr stark beeinflussen: Ein Lob oder eine Beleidigung können die Art, wie ich mich sehe, verändern.

Ich glaube daher, dass Identität etwas sehr Vielfältiges und Wandelbares ist. Sie verändert sich, weil ich und andere Menschen sozusagen ständig an ihr herumbasteln. Was ich damit meine, will ich in diesem Kapitel zeigen.

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Darstellung 1

Was ist Identität?

In diesem kurzen Video wird erklärt was Identität bedeutet.

Aufgabe 1

Sieh dir das Erklärvideo an.

  1. Überlege dir Eigenschaften, die du kennst und die dir wichtig sind.
  2. Was sind die Vorteile und Nachteile von Gruppenidentität?

1. Wer bin ich?

§ Cc4

Galerie: Wer bin ich?

Der Personalausweis zeigt unsere Identität anhand von Namen, Alter, Aussehen (Größe und Augenfarbe), Nationalität und Geburtsort. Diese Anteile unserer Identität haben wir uns nicht ausgesucht und wir können sie auch kaum verändern.

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Galerie: Wer bin ich?

Ein Facebookprofil zeigt Teile unserer Identität anhand von Interessen, Freunden, Aktivitäten und Ansichten. Diese Anteile unserer Identität können wir 'bearbeiten'. Wir entscheiden also, was wir zeigen und was nicht. Und wir können auch unwahre Angaben machen.

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Galerie: Wer bin ich?

Ein Lebenslauf zeigt unserer Identität anhand unseres schulischen und beruflichen Werdegangs, gemachten Erfahrungen und Fähigkeiten. Diese Anteile unserer Identität können wir in gewissen Grenzen 'bearbeiten'. Wir müssen allerdings darauf achten, dass wir keine überprüfbar falschen Angaben machen.

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Galerie: Wer bin ich?

Die Aufkleber auf diesem Laptop zeigen Interessen, Sympathien und Ansichten seines Besitzers, z.B. welche Organisationen und Firmen er mag.

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Galerie: Wer bin ich?

Selfies sind auch eine Aussage über die eigene Identität. Wir zeigen, wie wir aussehen, wo wir sind, mit wem, was wir tun, wie lustig wir sind und wieviel Spaß wir haben. Es sind bearbeitbare Aussagen, nicht nur, weil Fotos bearbeitet werden können. Wir verbrieten nur bestimmte Selfies von uns und löschen andere sofort.

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Galerie: Wer bin ich?

Aussagen und Meinungen, die wir von uns geben, sind ebenfalls Aussagen über unsere Identität. Dabei ist es nicht wichtig, ob wir diese Aussagen in einem Gespräch, in einem Tweet oder mit dem 'Gefällt mir-Button' machen. Wir überlegen uns deshalb genau, was wir sagen und wem wir es sagen. Es geht dabei nie nur um das Thema des Gesprächs, es geht immer auch um uns.

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Galerie: Wer bin ich?

Sozusagen unsere letzte Identitätsaussage an die Welt: Der Grabstein. Auch Grabsteine sagen 'So war sie/er.' Was darauf steht, entscheiden aber meistens die Lebenden, nicht die Verstorbenen.

Ein Blick in meinen Ausweis (der in anderen Ländern ja auch 'identity document' oder 'carte d´identité' heißt) genügt, schon wissen alle, wer ich bin. Name, Größe, Augenfarbe, Nationalität, Geburtstag und Geburtsort: Diese Angaben definieren mich und machen mich in ihrer Kombination einzigartig und unterscheidbar von allen anderen Menschen.

Ein Blick auf mein Facebook-Profil genügt, schon wissen alle, wer ich bin. Meine Interessen, meine Freunde, meine Reisen, die Musik, die ich mag, die Filme, die ich toll finde, die Parties, auf die ich gehe: Diese Angaben definieren mich und machen mich in ihrer Kombination einzigartig und unterscheidbar von allen anderen Menschen.

Das Beispiel zeigt: Unsere Identität setzt sich aus unglaublich vielen Einzelaspekten zusammen. Wir sind also gar nicht in der Lage, auf die Frage "Wer bist du?" umfassend zu antworten. Wird uns diese Frage gestellt, fangen wir an zu basteln. Wir wählen aus den möglichen Antworten auf die Frage diejenigen aus, die für unseren Gegenüber wahrscheinlich von Interesse sind – und solche, die uns selbst in einem guten Licht erscheinen lassen. Dafür muss uns übrigens gar keine direkte Frage gestellt werden. Wir treffen ständig ungefragt Aussagen über unsere Identität. Ein Tweet, ein Youtube-Kommentar, meine Kleidung, das Buch, das ich in der Bahn lese: All das kann eine Botschaft an meine Umwelt sein. Und diese Botschaft lautet: "So bin ich."

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Identität – feststehend oder konstruiert?

Eine der größten Streitpunkte in den Wissenschaften, die sich mit persönlicher Identität beschäftigen ist: "Hat man eine Identität oder schafft man sich eine Identität?"

  • Manche behaupten, dass die Identität etwas Feststehendes ist, dass sie den Menschen, der sie hat, prägt und sein Handeln bestimmt.
  • Andere sagen, dass Identitäten von einem Menschen selbst geschaffen werden. Menschen haben also keine vorgefertigte Identität, sondern sie konstruieren sich die für sie passende.

Beide Seiten können für ihre Sicht gute Argumente vorbringen:

  • Es ist unbestreitbar, dass wir von Dingen beeinflusst werden, die wir nicht selbst geschaffen haben. Unsere Erbanlagen, unser Elternhaus, unsere Erziehung usw. erschaffen, bestimmen und beeinflussen uns. Vielleicht sind wir ja so von den äußeren Einflüssen geprägt, dass wir wie ein programmierter Roboter nur das tun, was diese Prägung uns 'befiehlt'.
  • Andererseits haben wir aber auch selbst Einfluss auf unser Leben. Was wir tun, was wir sagen, wie wir auf andere wirken - das können wir mitbestimmen. Wir nutzen dafür verschiedene Identitäten, die wir selbst gestalten. Manchmal kann ich ein gut erzogener und höflicher Mensch sein, manchmal auch vorlaut und oberflächlich. Ich habe also mehrere Identitäten und kann diese nach meinem Willen und zu meinem Nutzen einsetzen.

Lukas Epperlein, Institut für digitales Lernen

2. Und die Anderen?

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Das Leben – eine Castingshow?

Castingshows sind ein extremes Beispiel für die Formbarkeit von Teilen unserer Identität durch Andere. Teilnehmer einer Castingshow müssen sich ständig von Anderen beurteilen lassen und deren Urteile auch in ihrem eigenen Verhalten umsetzen. Sonst haben sie keinen Erfolg. In unserem Alltag taucht nun natürlich kein Dieter Bohlen und keine Heidi Klum auf und kommandiert uns herum. Aber auch wir sind mit Urteilen und Erwartungen unserer Mitmenschen konfrontiert und müssen entscheiden, wie wir mit diesen umgehen.

Auf dem Foto sind die Finalteilnehmerinnen der vierten Staffel der Sendung 'Germany´s next Topmodel' zu sehen.

Nun wird es noch etwas komplizierter. Denn wir basteln uns unsere Identität ja nicht völlig allein und unabhängig. Die Menschen um uns herum, unsere Freunde, Bekannten und Feinde haben daran auch einen großen Anteil. Und zwar auf zwei Arten:

Erstens, indem sie uns zeigen, wie sie uns sehen. Urteile von Anderen (Beispiel: "Ich finde dich total toll/süß/doof/nervig.") beeinflussen, wie wir uns selbst sehen. Manchmal ist der Blick von Anderen sogar schärfer und zutreffender als unser eigener. Unsere Sicht auf uns selbst wird nämlich oft von unseren Gefühlen beeinflusst.

Zweitens brauchen wir die Anderen, um uns von ihnen abzugrenzen. Identität kann nur dadurch entwickelt werden, dass wir einen Unterschied zwischen uns selbst und Anderen feststellen. Ich kann mich selbst nur als schön empfinden, wenn ich erfahre und sehe, dass es auch Menschen gibt, die ich weniger schön finde als mich. Das bedeutet auch, dass eine Aussage über Andere oft eine Aussage über mich selbst ist: "Der ist ja saudoof" heißt eben auch: "Ich bin viel klüger".

3. Ich bin viele – du aber nicht!

§ Cc4

Selbst- und Fremdwahrnehmung: "Ich bin viele - du aber nicht!"

Selbst- und Fremdwahrnehmung: "Ich bin viele - du aber nicht!"

Dass es oft sinnvoller ist, von 'Identitäten' statt von 'einer Identität' zu sprechen, habe ich weiter oben schon angedeutet. Wir wechseln unsere Identitäten häufig und machen es von unserem Gegenüber und der Situation abhängig, wer wir gerade sind. Wir können also durchaus mehr als Einer oder Eine sein.

Interessanterweise billigen wir diese Vielfalt unseren Mitmenschen eher nicht zu. Werden wir Zeuge, wie ein uns scheinbar bekannter Mensch eine neue Facette seiner Identität zeigt, reagieren wir oft verwirrt oder gar verärgert. Wenn bei einer Party eine sonst zurückhaltende Frau nach dem zweiten Glas Wein komische Witz erzählt, empfinden wir das vielleicht als peinlich. Wenn wir den schüchternen Mitschüler wild tanzend in einer Disko beobachten, halten wir das eventuell für lächerlich. Wenn ein konservativer Politiker beim Betreten eines Nachtclubs fotografiert wird, ist das ein Skandal.

Der Grund für unsere Verwirrung ist, dass wir gar nicht in der Lage sind, andere Menschen in ihrer ganzen Vielfalt wahrzunehmen. Der einzige Mensch, bei dem wir das können, sind wir selbst. Andere Menschen müssen wir immer auch als bestimmte Typen wahrnehmen. Wir 'stecken' sie sozusagen 'in eine Schublade'. Verlässt dieser Mensch dann seine Schublade, verwirrt uns das.

Dastellung 3

Über unsere Sicht auf unsere Mitmenschen

Eine wissenschaftliche Theorie besagt, dass ein unbeeinflusster Blick auf einen Mitmenschen nicht möglich ist. Wir projizieren auf Menschen, denen wir begegnen und mit denen wir umgehen, immer eigene Vorstellungen und Handlungsweisen. Daher bleibt uns das eigentliche Gegenüber oftmals verborgen.

Andere Menschen können nicht so umfassend und genau wahrgenommen werden, wie man sich selbst wahrnimmt. Anderen Menschen gegenüber tritt man stets mit einer gewissen Voreingenommenheit gegenüber: Was wir von unseren Mitmenschen wahrnehmen, wird bewertet. Die Bewertung hängt dabei zum Beispiel sehr stark von den Erfahrungen ab, die wir zuvor mit anderen Menschen gemacht habe. Wenn wir etwa eine Gruppe uns unbekannter Menschen sehen, dann nehmen wir oftmals nicht einmal die einzelnen Individuen war. Vielmehr sehen wir ein Kollektiv. Diesem Kollektiv schreiben wir bestimmte Merkmale zu.

projizieren: etwas auf abbilden
Kollektiv: zusammengehörige Gruppe

Sabrina Kölbel, Institut für digitales Lernen.

Aufgabe 2

1. Denke darüber nach, bei welchem Menschen du das Gefühl hast, dass du ihn nicht richtig kennst, weil du sehr stark deine eigene Sicht auf ihn übertragen hast.

2. Formuliere Fragen an diesen Mendschen, mit denen du ihn besser kennenlernen kannst.