Im letzten Kapitel ging es um persönliche Identität und die Frage: "Wer bin ich?" Es gibt aber auch Identitäten, die von mehreren Menschen geteilt werden, die also aus der Frage: "Wer sind wir?", erwachsen. Unterscheiden sich diese Gruppenidentitäten von persönlicher Identität? Ich denke schon. Meiner Meinung nach sind Gruppenidentitäten viel starrer und können viel weniger leicht verändert und beeinflusst werden. Sie können ihre Träger also regelrecht gefangen halten. Was meine ich damit?
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Gruppenidentität: gemeinsam stark oder gefangen im System?
3.2 Haben auch Gruppen eine Identität?
1. Was meine ich mit Gruppenidentität?
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Die Gruppenidentität sogenannter 'Ultras': gewaltbereite Krawallmacher oder besonders engagierte Fans?
Gruppenidentitäten können sich auf ganz unterschiedliche Gruppen beziehen, z.B.:
- Nationalitäten (Deutscher, Türke, Russe)
- Kulturen (Deutscher, Türke, Russe)
- Religionsgemeinschaften (Katholik, Muslim, Jude)
- Subkulturen (Punk, Skater, Hipster)
- politische Gruppen (Sozialist, Konservativer, Liberaler)
- gesellschaftliche Schichten (Arbeiter, Bildungsbürger, 'Prekariat')
Alle diese Gruppen haben gemeinsam, dass man den Eindruck hat, etwas über ihre Mitglieder zu wissen. Manchmal gibt es aber einen großen Unterschied zwischen dem, was die Leute in einer dieser Gruppe über sich sagen und dem, was Außenstehende über sie sagen. Die Aussagen "So seid ihr." und "So sind wir." meinen nicht das Gleiche. Beide Aussagen haben jedoch etwas mit der Identität einer Gruppe zu tun.
Aufgabe 1
Gruppenspiel
Bildet Kleingruppen mit jeweils vier bis sechs Teilnehmern.
- Jedes Gruppenmitglied sammelt 3-5 Gruppenidentitäten, mit denen es sich selbst identifizieren kann. Schreibt diese einzeln auf 3-5 Zettel.
- Faltet eure Zettel und sammelt sie.
- Jemand zieht den ersten Zettel, liest laut vor.
Dann rät er, zu wem die genannte Gruppenidentität passen könnte.
Hinweis: Wenn er einen eigenen Zettel zieht, gibt er ihn ungelesen wieder in die Sammlung. - Jeder bekommt einen Punkt, wenn er richtig argumentiert hat.
- Das Spiel geht im Uhrzeigersinn weiter, bis alle Zettel gezogen und besprochen sind.
- Gewonnen hat der Teilnehmer mit den meisten Punkten.
Darstellung 1
Darstellung einer Gruppe: fanatische Fußballfans
Darstellung 1
Darstellung einer Gruppe: fanatische Fußballfans
Hier ist ein Link zu einer Aufnahme von Fans in Aktion.
2. Identitätszuschreibungen von außen: So seid ihr.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
'So sind US-Amerikaner.' Diese Galerie zeigt eine kleine Zusammenstellung von Annahmen über die Einwohner der USA. Solche Annahmen finden sich u.a. oft bei Deutschen oder anderen Europäern.
Beachte bitte, dass wir uns hier wieder im Bereich der Stereotype bewegen. Die Bildunterschriften in dieser Galerie beschreiben also nicht die 'Wahrheit', sondern einen bestimmten, eingeschränkten Blick auf die USA.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
US-Amerikaner sind sehr religiös. Das Christentum spielt im öffentlichen Leben der USA eine große Rolle. Manche Christen in den USA sind auch besonders radikal und greifen Abtreibungskliniken an oder drohen damit, Korane zu verbrennen. Das Bild zeigt ein Plakat mit der Aufschrift "Geh zur Kirche oder der Teufel kriegt dich" im Bundesstaat Alabama.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
Die US-Amerikaner lieben Waffen. Fast jeder von ihnen besitzt eine. Waffen sind in den Läden frei verkäuflich. Die USA haben deshalb auch ein großes Gewaltproblem. Es gibt viele Morde und Amokläufe. Das Bild zeigt eine Waffenmesse in Houston, Texas.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
Diese T-Shirts zeigen gleich zwei Dinge, die wir über US-Amerikaner zu wissen meinen: Sie ernähren sich schlecht, essen ständig Fastfood und sind deshalb oft übergewichtig. Und sie kennen sich in der Welt außerhalb der USA überhaupt nicht aus. Das Foto wurde in einem Geschäft in Japan aufgenommen.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
Die USA führen oft Krieg und sehen diesen als ein legitimes Mittel an, ihre Interessen durchzusetzen. Das Bild zeigt US- Soldaten im Irak, 2003.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
Viele weiße US-Amerikaner sind Rassisten. Die nicht-weißen Einwohner (Schwarze, Latinos, Asiaten etc.) werden diskriminiert. Sie haben schlechtere Lebensbedingungen und Karrierechancen und werden öfter Opfer von Polizeigewalt. Das Foto zeigt eine Demonstration gegen Rassismus, nachdem der 17 Jahre alte Trayvon Martin 2012 von einem Wachmann erschossen worden war.
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Galerie: Außensicht auf die US-Amerikaner
US-Amerikaner neigen zu extremen politischen Ansichten. Sie halten eine allgemeine Krankenversicherungspflicht für Kommunismus und die gleichgeschlechtliche Ehe für Teufelszeug. Sie misstrauen ihrem eigenen Staat und würden ihn am liebsten abschaffen. Das Foto stammt aus dem Jahr 2009 und zeigt eine Demonstration der sogenannten 'Tea-Party', einer radikal-liberalen Bewegung innerhalb der US-amerikanischen Konservativen.
Gruppenidentitäten werden oft von Menschen mitgeprägt und aufrechterhalten, die der entsprechenden Gruppe gar nicht angehören. Das sind nicht selten Minderheiten. Solche Prägungen funktionieren dann vor allem über Vereinfachungen und Verallgemeinerungen: Man nimmt also gewisse Merkmale, die bei einigen Mitgliedern der Gruppe zu beobachten sind, und behauptet, dass alle Gruppenmitglieder diese Merkmale haben.
Diese Zuschreibungen sind oft auch eher negativ. Die Mehrheit kann sich nämlich dadurch positiv von der Gruppe abgrenzen. (Siehe dazu auch das letzte Kapitel.) Auch bei Gruppenidentitäten gilt: Wenn ich sage: "Ihr seid rückständig", bedeutet das auch: "Wir sind fortschrittlich."
Aufgabe 2
Arbeite
die Bildergalerie "Außensicht auf die US-Amerikaner" durch. Ermittle
mit einer Bilduntersuchung, inwiefern Bilder Stereotype befördern
können.
Nutze dazu auch die Erkenntnisse aus dem Kapitel 3.1.
Hinweis: Bei einer Bilduntersuchung gehst du in drei Schritten vor.
- Beschreibe Aufbau, Farbgebung und Einzelelemente des Bildes.
- Deute Aufbau, Farbgebung und Einzelelemente sowie deren Zusammenhang. Welche Botschaft sendet das Bild aus?
- Beurteile und werte diese Botschaft des Bildes.
3. Gruppenidentität von innen: So sind wir.
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Galerie: So sind wir
Symbole und Zeichen sind ein häufig gewähltes Mittel, um die eigene Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu zeigen. Zugleich wird damit etwas über die Identität dieser Gruppe ausgesagt. Hier siehst du eine Fahne mit dem inoffiziellen Logo des Hamburger Fußballvereins St. Pauli.
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Galerie: So sind wir
Hier siehst du das Deckblatt einer Ausgabe des 'Kommunistischen Manifests' von Karl Marx.
Bestimmte Gruppen, wie Parteien, Glaubensgemeinschaften oder Nationen, schreiben die Werte und Vorstellungen, denen sie sich verpflichtet fühlen auf. Damit soll jeder erfahren können, was die Identität der Gruppe ausmacht.
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Galerie: So sind wir
Manche Menschen glauben, dass die fortschreitende Digitalisierung irgendwann zum Verschwinden der Bücher führen wird. Andere sagen, dass Bücher schon deshalb nicht verschwinden werden, weil man über sie die eigene Gruppenzugehörigkeit zeigen kann. Eine volle Bücherwand zu haben, sagt: 'Ich gehöre zur Gruppe der Bildungsbürger, denn wir lesen gerne und viel.' Ein randvoller E-Book-Reader kann das so nicht aussagen.
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Galerie: So sind wir
Kleidung, Trachten, Frisur u.ä. sind ein typisches Mittel, die eigene Gruppenzugehörigkeit darzustellen und etwas über die eigene Gruppe mitzuteilen. Die Männer auf diesem Bild sagen mit ihrer Kleidung: 'Wir sind gläubige Juden, die sich der Tradition ihrer Vorfahren verpflichtet fühlen.'
Sieh dir dazu auch das Kapitel 3.5 'Kleider machen Leute?' an.
Natürlich wird Gruppenidentität auch von den Mitgliedern einer Gruppe geschaffen und geprägt. In jeder Gruppe haben die Gruppenmitglieder eine gemeinsame Vorstellung darüber, was sie ausmacht. Die Dinge, die eine Gruppe ausmachen, sind Überzeugungen und Verhaltensweisen: Das bedeutet, die Gruppe bestimmt, was sie glaubt und was sie tut.
Wie bei Zuschreibungen von außen handelt es sich hierbei meistens auch um Verallgemeinerungen. Was das heißt? Nur selten wird ein bestimmtes Gruppenmitglied alle Merkmale der Gruppe erfüllen. Beispiele: Nicht jeder Christ geht jeden Sonntag in die Kirche und nicht jeder Hip-Hopper trägt Basecap. Aber die Gruppenmitglieder sind sich normalerweise schon darüber einig, dass bestimmte Merkmale zur Identität der Gruppe gehören.
Darstellung 2
Eine Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland
Darstellung 2
Eine Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland
Hier findest du eine Informationsbroschüre über das Leben in Deutschland.
Aufgabe 3
Gruppenarbeit
Bildet erneut Kleingruppen mit vier bis sechs Personen.
1. Erstellt gemeinsam eine Liste der in Darstellung 2 genannten typischen Verhaltensweisen von Deutschen.
2. Nun überlegt jedes Gruppenmitglied für sich allein:
a) Wer in deiner Gruppe würde den einzelnen Punkten zustimmen?
b) Welche Punkte sind dir selbst wichtig?
3. Tauscht euch über die Antworten aus.
4. Diskutiert die Bedeutung eurer Ergebnisse für eine mögliche deutsche Gruppenidentität.