8.2 Russlanddeutsche Erfahrung und die Zukunft Europas
In vielen Staaten Europas setzt sich erneut ein nationalistisches Denken durch. Welche Zukunft wollen wir in Europa gestalten? Und welche Rolle soll Russland dabei haben?
Nach 1990 haben sich die politischen VerhÀltnisse in Europa grundlegend gewandelt. Viele Menschen aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks sind nach Westeuropa gekommen, um hier zu arbeiten, zu studieren, eine bessere Zukunft zu finden. Viele östliche Staaten Europas sind der EuropÀischen Union beigetreten. Dahinter war auch die Absicht, in der Zukunft Kriege in Europa unmöglich zu machen. Konflikte gibt es trotzdem immer wieder. In vielen Staaten setzt sich erneut ein egoistisches und nationalistisches Denken durch. Welche Zukunft wollen wir in Europa gestalten? Und welche Rolle soll Russland dabei haben?
Aus allen Kriegen und Streitigkeiten des 20. Jahrhunderts lassen sich mehrere Lehren ziehen. Auf dem europĂ€ischen Kontinent leben Völker mit unterschiedlichen Lebensweisen, Kulturen und Religionen auf recht engem Raum zusammen. Sie haben jeweils eigene Traditionen, Sprachen und Geschichten. Das macht Europa bunt und immer wieder anders. In Irland leben Menschen anders als in Bulgarien, Deutsche unterscheiden sich von Russen usw. Statt ĂŒber diese Unterschiede zu streiten, sollten wir sie als Bereicherung annehmen und nutzen.
Quelle 1
"Die Bedingungen des 21. Jahrhunderts verlangen nicht nach Mauern und Grenzen [...], nicht nach HĂ€usern der Geborgenheit, sondern nach PlĂ€tzen der Begegnung." â C. Bertram in Moskau News 9/88
"Was fĂŒr ein gemeinsames Haus? Aus vorgefertigten Elementen zusammen-gebastelt, zwanzig Stockwerke hoch, uniformiert, oder ein hollĂ€ndisches Landhaus, bequem, weltoffen, mit groĂen Fenstern auf die StraĂe, ohne VorhĂ€nge, mit einer bĂŒrgerlichen Kultur im besten progressiven Sinne des Wortes. Oder britische ReihenhĂ€user, angenehm â in ihrer Art kleinbĂŒrgerlich, aber immerhin doch demokratisch und menschennah, also was fĂŒr ein Haus?" â Kurt Biedenkopf, Deutschland
"Hier ist ein Haus geplant, da wohnen sehr viele EuropĂ€er drin, unterschiedlicher GröĂenordnung. Und dann ist aber da mit einem Mal ein sehr sehr groĂer, ein Super-EuropĂ€er, der auĂerdem von sich sagt, er sei EuropĂ€er, es ist aber eine europĂ€isch-asiatische Macht." â Renata Fritsch-Bournazel, Frankreich
"Eine Bemerkung zu den ganz GroĂen. Die unterscheiden sich ja in einem Punkt, nicht? Dieser ganz GroĂe, der wohnt im europĂ€ischen Haus, aber wohl auch in einem anderen, nĂ€mlich in einem asiatischen [...] Die Amerikaner wohnen ĂŒberhaupt nicht in diesem Haus, sondern sie haben auf unsere Bitte hin [...] eine Zweitwohnung bei uns im Haus. Aber wohnen tun sie da eigentlich nicht." â Kurt Biedenkopf, Deutschland
"Man darf nicht vergessen, wir sind eine groĂe Nation mit sehr vielen verschiedenen Völkern, aber im Endeffekt sind wir eine europĂ€ische Nation, eine Nation europĂ€ischer Abstammung." â John Kornblum, USA, Botschafter
"Die Leute, von denen wir sagen wĂŒrden, die gehören eigentlich nicht zu unserm Europa, das heiĂt nicht, daĂ das notwendigerweise böse Leute sind. Das können sehr gute Freunde sein, ohne daĂ sie unsere Hausgenossen sind." â Willem Brugsma, Niederlande
Quelle 1
Unter den Suchbegriffen: 'Steinmeier Russland' findest du auf YouTube eine Rede des damaligen deutschen AuĂenministers Steinmeier zum 75-jĂ€hrigen Gedenken des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 1941 (im Jahr 2016). Er sprach darin auch ĂŒber die Zukunft des VerhĂ€ltnisses zu Russland.
Zeichne ein Haus Europas. Achte darauf, dass diese Zeichnung Deine Vorstellung von einem friedlichen Zusammenleben in Europa zu Ausdruck bringt.
Organisiert in der Gruppe eine Ausstellung der Zeichnungen zum Thema 'Gemeinsames Haus Europa'.
Darstellung 1
Grundeinsichten fĂŒr einen EuropĂ€er der Gegenwart:
Europa hat eine lange gemeinsame Geschichte.
Wanderungsbewegungen von Menschen hat es in der Vergangenheit gegeben und wird es auch in Zukunft geben.
Die eigene Kultur und Sprache zu pflegen ist wichtig.
Kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung und eine Chance.
Die Ăberbewertung streng abgrenzender und vereinheitlichender Vorstellung von Staat und Nation im 19. Jahrhundert hat Europa mit in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts gefĂŒhrt.
Im 21. Jahrhundert gibt es auf der Welt groĂe Machtblöcke und sehr mĂ€chtige Staaten: die USA, China, die EuropĂ€ische Union etc. Diese konkurrieren weltweit um Einfluss und wirtschaftliche Vorteile. Gegen diese MĂ€chte können einzelne Nationalstaaten in Europa nur unterliegen.
Grundregeln fĂŒr einen EuropĂ€er der Gegenwart:
Um ihre Vielfalt nutzen zu können, sollten sich die europĂ€ischen Völker auch politisch und wirtschaftlich immer mehr zusammenschlieĂen. Das ist keine Behinderung der eigenen (nationalen oder regionalen) Kultur, Religion und Sprache.
Die EuropĂ€ische Union und ihre Nachbarn mĂŒssen friedliche und vertrauensvolle Beziehungen zueinander entwickeln. Das gilt fĂŒr Russland, die TĂŒrkei, PalĂ€stina und Israel, die nordafrikanischen Staaten usw.
Darstellung 2
Nach der Französischen Revolution ging die vormoderne Welt in Europa zu Ende. In dieser Welt hatten Nation und Staat eine andere Rolle im Leben der Menschen als im nachfolgenden 19. und 20. Jahrhundert. Gerade die Deutschen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation waren es gewohnt, mit mehreren staatlichen Ebenen zu leben - sie konnten z.B. zugleich Untertanen ihres Grundherren, ihres Landesherren und des Kaiser sein. Als Deutsche bezeichneten sie sich nur selten. Wenn Menschen damals sagen sollten, aus welchem Land sie kommen, dann sagten sie etwa: 'Ich bin ein BĂŒrger der Reichsstadt Augsburg oder NĂŒrnberg.' oder: 'Ich bin Mecklenburg-Strelitzer.' oder 'Wir gehören zum Kaiser.' Und wenn diese Menschen z.B. einen anderen Landesherren bekamen, so Ă€nderte sich an ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihrer Sprache, ihrer Religion meistens nicht sehr viel. In dieser Welt lebten auch die Deutschen, die als Kolonisten nach Russland gingen. Sie waren dem Zaren als ihrem Herrn treu, aber lebten ansonsten in ihren eigenen nationalen und regionalen Gewohnheiten weiter. Es war kein Problem, russischer Untertan zu sein und zugleich deutsch zu sprechen, lutherisch zu sein und deutschen Schulunterricht zu bekommen.
Das Ă€nderte sich 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert grundlegend. Die Nation wurde zu einem mĂ€chtigen Faktor im Leben. Alle Menschen sollten sich nun vor allem anderen dazu bekennen, dass sie Deutsche, Russen, Franzosen oder Italiener waren. Kultur, Land und Volk sollten eine Einheit bilden. Wer in Deutschland lebte, sollte als Deutscher sein, die deutsche Sprache sprechen, deutsche Vorfahren haben und dem deutschen Kaiser gehorchen. Ăhnlich ging es den Russlanddeutschen in Russland.
Aufgabe 2
Gehe zurĂŒck in die Kapitel 7.2 und 7.3. Vergleiche die PrĂ€gung der nach Deutschland kommenden SpĂ€taussiedler mit den VorschlĂ€gen aus Darstellung 1 in diesem Kapitel.
Welcher Nation fĂŒhlst du dich zugehörig? Was bedeutet die Nation fĂŒr dich? BegrĂŒnde deine Meinung.
Kannst du dir ein Leben in mehreren Nationen und Staaten vorstellen? BegrĂŒnde deine Meinung.
2. Die Bedeutung der Russlanddeutschen fĂŒr die deutsche und europĂ€ische Gesellschaft
Russlanddeutsche Geschichte ist sehr wertvoll fĂŒr alle Menschen in Europa. Sie beinhaltet die Erfahrungen einer Volksgruppe, die zwischen zwei Staaten und Nationen gelebt hat. Dabei haben insbesondere die durch die Siedlungspolitik Katharinas II. nach Russland eingewanderten Menschen erlebt, wie es ist, wenn man sich an eine andere Gesellschaft anpassen muss, verfolgt wird und seine Heimat verliert.
Die Russlanddeutschen lebten auf der Grundlage eines Privilegs in Russland, das ihnen zunĂ€chst weitgehende UnabhĂ€ngigkeit vom russischen Staat ermöglichte. Sie mussten lĂ€ngere Zeit keine Steuern zahlen und keinen Wehrdienst leisten. Sie bildeten gewissermaĂen eine Staat im Staate. Sie pflegten ihre eigene Kultur und die Erinnerung an Deutschland, waren aber zugleich Menschen des russischen Staates und dem Zaren treu. Im Ersten Weltkrieg wollten viele von ihnen sogar Russland gegen die deutschen und österreichischen Truppen verteidigen. Sie hatten also mehrere LoyalitĂ€ten und das war auch lange Zeit fĂŒr niemanden ein Problem. Erst als sich die SouverĂ€nitĂ€t der Völker, die ethnische und kulturelle Einheitlichkeit im 20. Jahrhundert endgĂŒltig als Grundlage des politischen Denkens durchsetzte, bekamen die Russlanddeutschen Probleme. Sie wurden fortan als Menschen angesehen, die nirgendwo so richtig hingehören. Man nutzte sie oft aus und trieb sie in ausweglose Situationen. Das fĂŒhrte letztlich fast zum Ende ihres Lebens in Russland.
3. Nationalismus â ein Fehler der Vergangenheit?
Der unbedingte Glaube an die eigene Nation und die Ablehnung anderer Nationen und Völker nennt man Nationalismus. Seine Entstehung hat zu den Konflikten und Kriegen des letzten Jahrhunderts stark beigetragen. Menschen waren immer wieder wie im Wahn, wenn es darum ging, die eigene Nation zu verteidigen. Sie lieĂen sich Angst vor anderen Menschen und Kulturen machen und zu Gewalt anstacheln.
Wie sieht die Zukunft aus?
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die freien Staaten und Völker West- und Mitteleuropas einen anderen Weg gegangen. Sie haben sich zusammengeschlossen und die EuropĂ€ische Union aufgebaut. Menschen in Deutschland sind heute also z.B. EuropĂ€er, Deutsche, Bayern und MĂŒnchner. Viele politische Aufgaben werden heute auf europĂ€ischer Ebene fĂŒr alle EuropĂ€er einheitlich geregelt und das ist grundsĂ€tzlich sehr sinnvoll. Angehöriger der EuropĂ€ischen Union zu sein, bedeutet nĂ€mlich nicht, dass man nicht mehr Deutscher, Franzose oder Italiener sein darf. Im Gegenteil. Die Vielfalt der Sprachen, Lebensweisen, Traditionen und Religionen macht die StĂ€rke der EuropĂ€ischen Union aus. Ein bisschen erinnert das an die VerhĂ€ltnisse der vormodernen Welt. Wenn man nicht stĂ€ndig nur die eigene Nation vergöttert und in Angst und Hass lebt, hat man viel eher die Möglichkeit, andere Menschen als Bereicherung zu empfinden. Und man kann mit ihnen zusammen ein friedliches gutes Leben aufbauen.
Aufgabe 3
"Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. â Dauerhafte Sicherheit fĂŒr Russland kann es nur mit und nicht gegen Europa geben." ErklĂ€re, was Steinmeier mit dieser Aussage (ab Minute 7:20) meinen könnte.
Hör dir die Rede ab Minute 9:30 genau an und ĂŒberlege dann, welche besondere Rolle die Russlanddeutschen im deutsch-russischen VerhĂ€ltnis haben können.
Erarbeite dir eine eigene Position zur Frage, wie die Menschen in Europa in Zukunft am besten zusammenleben sollten.