Wie gelingt die Integration der Spätaussiedler? In Deutschland leben etwa 2,4 Millionen Spätaussiedler. In den Medien und der Öffentlichkeit fallen sie kaum auf. Oder doch?
7.3 Mitmachen in der deutschen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft
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Mir sind 2,4 Millionen Russlanddeutsche bislang in Deutschland gar nicht aufgefallen. Ich frage mich: Wie leben russlanddeutsche Menschen in der deutschen Gesellschaft. Sind sie zurückgezogen oder engagieren sie sich?
1. Arbeiten und eigenständig sein – ein starkes Bedürfnis russlanddeutscher Spätaussiedler
Die Spätaussiedler kommen meistens mit einer hohen Motivation nach Deutschland. Das bedeutet, sie sind sehr stark daran interessiert, eine Arbeit zu finden, Geld zu verdienen, anerkannt zu werden sowie sich und ihren Familien ein gutes Leben aufzubauen.
Dafür nehmen sie auch schwierige Umstände in Kauf und versuchen, Probleme zu lösen. Welche Probleme sind das? Zum Beispiel werden die in der Sowjetunion oder ihren Nachfolgestaaten erworbenen beruflichen Abschlüsse von Russlanddeutschen in Deutschland oftmals nicht anerkannt. Viele Menschen müssen also umschulen, neue Berufe erlernen und in andere Branchen wechseln. Um arbeiten zu können, nehmen viele Russlanddeutsche auch weite Arbeitswege in Kauf. Die Arbeitslosenquote unter Russlanddeutschen ist niedriger als im deutschen Durchschnitt.
'Häuslebauer': hoher Familienzusammenhalt, Organisationstalent und Anpassungsfähigkeit führen zum Erfolg
Nicht immer finden die Russlanddeutschen in ihrer Umgebung Verständnis. Manchmal werden ihnen Sozialbetrug und illegale Geschäfte unterstellt. Auch wenn solche Unterstellungen nicht zutreffen, tauchen sie immer wieder auf. Warum? Das kann man zum Beispiel mit dem Hausbau erklären: Viele Spätaussiedler beginnen schon bald nach ihrer Ankunft in Deutschland, ein Haus für ihre Familien zu bauen. Einheimische Familien der Nachbarschaft wundern sich oft darüber, denn sie sparen sehr lange, ehe sie einen Hausbau beginnen. Hohe Verschuldung und lange Abzahlung des Kredits sind ebenfalls 'normal'.
Wie machen das die Spätaussiedler? Ganz einfach: Sie haben einen hohen Zusammenhalt in der Familie, legen ihre Ersparnisse zusammen, bauen selbst oder helfen mit, statt Firmen bauen zu lassen. Sie nutzen also alle Möglichkeiten, um preiswert bauen zu können und Unterstützungen zu bekommen.
Darin zeigt sich eine typische Eigenschaft von Russlanddeutschen: Sie sind gewohnt, auch in schwierigen Situationen Lösungen zu finden und viele Arbeiten selbst zu machen. Sie bauen Werkzeuge selbst, nutzen die kostengünstige Arbeitskraft von Familie und Freunden usw. Diese Eigenschaft ist in Mangelgesellschaften weit verbreitet. Man kann sie auch bei Menschen aus der ehemaligen DDR beobachten.
Merkkasten 1
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Subsistenzwirtschaft ist eine Wirtschaftsform. Alle Arbeit dient in dieser Wirtschaftsform vor allem der Selbstversorgung. Überschüsse (Gewinne) werden nicht vorrangig angestrebt. Oftmals wird diese Wirtschaftsform auch von politischen, klimatischen oder geologischen Umständen erzwungen; Menschen müssen vor allem das reine Überleben sichern.
Dazu werden folgende Vorgehensweisen genutzt: Selbsthilfe ('Eigenbau'), Tauschhandel, Erschließung kostenloser natürlicher Ressourcen (Holz sammeln in Wäldern), Nachbarschaftshilfe, Herstellung und Verkauf einfacher handwerklicher Produkte usw.
Quelle 1
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Es ist eigentlich egal, ob man Russlanddeutscher oder anderer Herkunft ist. Unternehmer zu sein, ist die Hauptsache. Durch eigenes Handeln übernimmt man die Verantwortung für sich und auch für die Familie und das Umfeld. Allerdings ist die Selbständigkeit keine Selbstverständlichkeit für Menschen mit Migrationshintergrund. Viele unserer Landsleute kommen aus kleinen Dörfern in Russland und Kasachstan (genau so wie ich). Und die Tatsache, dass diese Menschen Fuß im neuen Land fassen und den Schritt in die Selbständigkeit wagen, ist eine große Herausforderung und ein großer Erfolg. Das fasziniert mich an unseren Unternehmern.“
Aufgabe 1
- Wörtlich übersetzt bezeichnet Subsistenzwirtschaft eine Wirtschaft, die durch sich selbst bestehen bleibt.
Erläutere den Begriff mit eigenen Worten und anschaulichen Beispielen. - Beziehe den Begriff Subsistenzwirtschaft auf das Verhalten von russlanddeutschen Spätaussiedlern in Deutschland.
- Beurteile, inwiefern der Begriff auf das heutige Leben russlanddeutscher Spätaussiedler übertragen werden kann.
2. Russlanddeutsches Unternehmertum – ein Beispiel
Die 'Weiz Industrie- und Robotertechnik' ist eine Firma, die ihren Sitz in Kürten im Rhein-Bergischen Kreis hat. Der Firmeninhaber Waldemar Weiz ist Russlanddeutscher und hat in Nordrhein-Westfalen ein Industrieunternehmen aufgebaut, das Spezialteile für robotergesteuerte Produktionsanlagen herstellt. Die Firma hat vielfältige Kontakte nach Russland und Kasachstan und verkauft einen großen Teil seiner Produkte nach Osteuropa.
Es gibt auch einen Unternehmerverband der Deutschen aus Russland, dem gegenwärtig 35 Mitglieder angehören. 70 Prozent dieser Mitglieder sind Selbständige. Sie sind in vielen Branchen tätig, vom E-Commerce bis zur Medizintechnik, vom Handel bis zum Baubetrieb.
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Der Zeitungsbericht hebt zunächst hervor, dass es in der deutschen Gesellschaft mitunter Neid auf die Unterstützung der Spätaussiedler durch den Staat gibt:
Und Neid ist [...] überall zu spüren. Neid auf die Rentner, die ein Leben lang gearbeitet, aber nie in die deutsche Rentenkasse einbezahlt haben; Neid auf die Fahrräder der Aussiedlerkinder; Neid auf die schmucken Eigenheime, die sich viele Rußlanddeutsche schon nach kurzer Zeit errichten: "Woher haben die Russen denn das Geld zum Bauen?" zetern die Stammtische.
Wie solche Neidgeschichten Einheimischer entstehen, wird ebenfalls erklärt:
Gerüchte über enorme Begrüßungsgelder, billige Baukredite und ständige Schwarzarbeit zischeln durchs Dorf.
Und schließlich wird das schnelle Ankommen der Russlanddeutschen in der deutschen Gesellschaft auch erklärt:
Kaum einer der Sohrener will wissen, daß in den Aussiedlerhäusern mehrere Generationen unter einem Dach wohnen. Daß Verwandte und Bekannte mit Geld aushelfen und beim Bau kräftig anpacken. Daß die Rußlanddeutschen in der Fremde, der Heimat ihrer Ahnen, eng zusammenrücken.
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Wir können sagen: Angekommen in Deutschland ging es mehreren Russlanddeutschen hier wirtschaftlich viel besser als in der ehemaligen Sowjetunion, auch wenn sie dort angesehene Fachleute gewesen waren. Hier waren ihre beruflichen Positionen oft weniger angesehen. Das höhere Einkommen in Deutschland bedeutete für die Russlanddeutschen aber nicht, grenzlose kulturelle und soziale Vorteile ergriffen zu haben in der neuen alten Heimat.
3. Mitmachen in der Politik
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Russlanddeutsche sind auch Teil der deutschen Politik geworden. Man kann es etwa an Heinrich Zertik sehen, der seit 2013 erster russlanddeutscher Angeordneter des Deutschen Bundestages ist. Sein Wahlkreis ist Höxter-Lippe. Zertik wurde 1957 in Kastek, in der früheren Sowjetunion (Kasachische Sozialistische Sowjetrepublik) geboren und kam mit seiner Familie 1989 nach Deutschland. Seine Fachgebiete sind Aussiedler- und Minderheitenpolitik, Menschenrechte, Kultur und Medien.
Viele Russlanddeutsche sind auch in der Kommunalpolitik engagiert. Sie kümmern sich um Jugendarbeit, Schulpolitik, Wirtschaftsansiedlungen u.ä.
Hier ist ein Link zur Homepage von Heinrich Zertik.
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Aufgabe 2
- Drehe ein kurzes Handy-Video, in dem du deine Zukunftswünsche und -pläne beschreibst.
- Zeige dieses Videos in der Gruppe.
- Diskutiert in der Gruppe über eure Wünsche und Pläne.
- Was ist an euren Wünschen und Plänen realistisch?
- Was benötigt ihr, um eure Wünsche und Pläne umsetzen zu können?
- Was muss sich in der deutschen Gesellschaft in Zukunft dringend ändern?
Aufgabe 2
- Werte die Interviews mit Julia Iwakin und Heinrich Zertik aus.
- Was ist ihnen besonders wichtig?
- Was war entscheidend für ihren Weg in Deutschland?
- Sammle weitere Geschichten, die das Engagement Russlanddeutscher in der deutschen Gesellschaft zeigen.
- Bereite mit diesen Informationen einen Vortrag zum Thema 'Russlanddeutsche gestalten die deutsche Gesellschaft mit' vor.
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Die ehemaligen russlanddeutschen Kolonisten, die jetzt in Deutschland leben, stehen in erster Linie vor der Aufgabe, sich die deutsche Sprache anzueignen und sich an die Umgebung zu assimilieren, unter anderem auch deswegen, weil die für sie charakteristischen Züge (Konservatismus, ein gewisser Provinzialismus, in der Sprachkompetenz: eine archaische Mundart oder Russisch) von der Umgebung negativ beurteilt werden. Sie streben nach dem Monolinguismus (Standarddeutsch) und möchten ihre besondere Identität als Russlanddeutsche aufgeben, was ihnen nicht immer gelingt. [...] Danach verändert sich ihr Selbstverständnis, was in den Selbstbezeichnungen 'Deutsche aus Russland', 'Russlanddeutsche', 'Russen-Deutsche' oder 'rusaki' zum Ausdruck kommt.
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Erbringen Spätaussiedler besondere Leistungen für die Gesellschaft? Spätaussiedler bringen ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, insbesondere im Zusammenleben mit Menschen anderer Sprache, Kultur und Religion mit, sowie die Bereitschaft eines Engagements bei Wirtschaftsunternehmen mit osteuropäischen Tätigkeitsfeldern. Viele von ihnen sind bereits im Herkunftsland ausgebildete Fachkräfte und sind somit ein wertvolles Potential für die hiesige Wirtschaft. Die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit von Russlanddeutschen im Sport wurde bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften (wie zum Beispiel im Frauenfußball oder in diversen Kampfsportarten) mit zahlreichen Medaillen belohnt.
Spätaussiedler sind durchschnittlich jünger als die deutsche Wohnbevölkerung. Dadurch leisten sie langfristig einen positiven Beitrag zur demographischen Entwicklung. Aufgrund der günstigen Altersstruktur zahlen sie mehr in die sozialen Sicherungssysteme ein, als sie diesen entnehmen.
Quelle 2
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Rund 620.000 Spätaussiedler sind in Nordrhein-Westfalen beheimatet und gehören zu unserem Land. Hinter der Zahl stehen in großer Mehrheit gut integrierte Russlanddeutsche sowie Deutsche aus den früheren GUS Gebieten. Das kulturelle Zusammenleben und die zu würdigende Lebens- und Integrationsleistung förderten die Weiterentwicklung unseres Landes, vor allem in den Bereichen der Kultur und der Wirtschaft.
Aufgabe 3
Russlanddeutsche sind überwiegend sehr gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Ihre Aufnahme hat sich als eine Erfolgsgeschichte erwiesen. Ihre Aktivität, ihr Willen, die deutsche Gesellschaft mitzugestalten, auch ihre Sprachkenntnisse sind eine wertvolle Bereicherung der deutschen Gesellschaft.
Dass viele Russlanddeutsche natürlich Russland und andere Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sehr gut kennen und auch die russische Sprache verstehen, wollen sich russische Medien und Politiker manchmal jedoch auch zu Nutze machen. Der Erfolg solcher Einflussnahmeversuche war bislang nicht groß. Anfang 2016 sorgte jedoch der 'Fall Lisa' für Schlagzeilen.
Aufgabe 3
- Sammelt in der Gruppe negative Erfahrungen Russlanddeutscher in der deutschen Gesellschaft.
- Worin liegen die Ursachen für diese negativen Erfahrungen?
- Können politische Regelungen etwas dazu beitragen, diese negativen Erfahrungen zu verhindern? Verfasst einen Brief an den Landtagsabgeordneten eures Wahlbezirks und stellt darin Forderungen auf, die aus eurer Sicht das Leben von Menschen russlanddeutscher Abstammung in Deutschland erleichtern können.