5.2 Die Deutschen sollen Russen werden

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Alle tanzen nach Alexanders Pfeife: Aus Russlanddeutschen müssen Russen werden!

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5.2 Die Deutschen sollen Russen werden

Katharina die Große hatte die Deutschen nach Russland geholt, damit sie das Land bearbeiteten, Reichtum erwirtschafteten und dadurch auch das Russische Reich wirtschaftlich voranbrachten. Dass die Deutschen dabei irgendwann zu Russen werden würden, war nicht vereinbart worden.

Diese Abmachung funktionierte, wie wir gesehen haben, über lange Zeit sehr gut. Die Deutschen erfüllten ihren Teil und die russische Regierung ließ sie dafür weitgehend in Ruhe. Katharinas Nachfolger, Alexander II. und Alexander III., änderten nun aber die Abmachung einseitig. Warum taten sie das, und welche Auswirkungen hatte das für die deutschen Siedler?

1. Alexander II. erkennt: Wir sind rückständig!

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Galerie: Alexanders Reformen

Alexander II. war von 1855 bis 1881 Zar von Russland. Während seiner Regierungszeit erließ er viele tiefgreifende Reformen, um Russland zu modernisieren.

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Galerie: Alexanders Reformen

Im Krimkrieg musste das russische Militär die Erfahrung machen, mit den anderen europäischen Mächten nicht mehr mithalten zu können. Der Krieg, in dem Russland erst gegen das türkische Osmanische Reich und später auch gegen Frankreich und Großbritannien kämpfte, endete mit einer russischen Niederlage. Das Gemälde "Die dünne rote Linie" von Robert Gibb zeigt eine britische Einheit im Kampf gegen russische Kavallerie, es stammt von 1881.

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Galerie: Alexanders Reformen

Eine der wichtigsten Reformen Alexanders II. war die Aufhebung der Leibeigenschaft. Bis dahin hatten viele der armen russischen Bauern in einem sklavenartigen Verhältnis zu ihren Gutsherren gelebt. Die Leibeigenen gehörten zum Besitz eines Gutsherren, er bestimmte über sie, ohne seine Zustimmung durften sie nicht umziehen, heiraten usw. Das Gemälde von Boris Kustodiev stammt von 1907 und zeigt Leibeigene, die der Verkündung ihrer Befreiung lauschen.

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Galerie: Alexanders Reformen

Auch dieses Gemälde von Grigory Myasoyedov zeigt russische Leibeigene. Ihnen wird die Verkündung ihrer Freiheit von dem rot-gekleideten Jungen in der Mitte vorgelesen. Das Gemälde stammt von 1873.

Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkten viele Politiker und Militärführer in Russland, dass ihr Land gegenüber den anderen europäischen Großmächten ins Hintertreffen zu geraten drohte. Auslöser für diese Erkenntnis war der für Russland ungünstig verlaufene Krimkrieg (1853-1856). Die Rückständigkeit beschränkte sich nicht nur auf das Militär. Während sich andere Mächte, wie Frankreich und Großbritannien, zu modernen Nationalstaaten entwickelt hatten, war Russland teilweise noch von mittelalterlichen Verhältnissen geprägt. Die Bauern waren unfreie, von ihren adeligen Landbesitzern abhängige Leibeigene und die Städte entwickelten sich nur langsam. Außerdem empfanden sich die Russen nicht als Russen. Sie sahen sich als Untertanen des Zaren und ihrer Fürsten, aber sie hatten – anders als beispielsweise die Franzosen – nicht das Gefühl, das einheitliche Volk eines einheitlichen russischen Staates zu sein. Sie sahen in einem solchen Staat keinen besonderen Wert, für den sie kämpfen und im Notfall auch sterben wollten. Der Zar Alexander II. wollte daran etwas ändern.

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Was ist eine Elite?

Das Wort Elite bedeutet Auswahl. In Gesellschaften werden oftmals die Führungsschichten in Wirtschaft, Politik, Kulturleben und Militär als Elite bezeichnet. Angehörige dieser Führungsschicht sind jedoch keineswegs immer die Besten oder Fähigsten.

Lukas Epperlein, Institut für digitales Lernen.

Darstellung 1

Was ist eigentlich das Besondere an einem Nationalstaat?

Heute erscheint uns das ganz normal und selbstverständlich: Es gibt Staaten und in diesen Staaten leben Bürgerinnen und Bürger, die sich alle als gleichberechtigte Mitglieder der Bevölkerung empfinden. Sie erwarten gewisse Dinge von diesem Staat, z.B. Schulbildung und Sozialversorgung. Und sie akzeptieren, dass der Staat Dinge von ihnen erwartet, z.B. Steuern oder Wehrdienst.

So ist es aber noch nicht sehr lange. Die Idee eines solchen Nationalstaats hat sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelt.

Vor der Erfindung dieses Nationalstaats lebten die Menschen in persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten, z.B. in der Feudalordnung. In der Feudalordnung hat jeder Mensch ganz konkrete Personen, die für ihn zuständig sind, auf die er achten muss, die sein Leben bestimmen. Ein Bauer ist von seinem Grundbesitzer abhängig, dieser hat über sich einen höher gestellten Adeligen, und über diesen ist dann vielleicht der König gestellt. Herrschaft wird zwischen diesen Personen ausgeübt.

In einer solchen Ordnung konnte eine Herrscherin wie Katharina II. natürlich auch sagen: 'Die deutschen Siedler hole ich ins Land und unterstelle sie direkt mir selbst und meinen Beamten. Ich lege fest, welche Rechte und Pflichten sie haben und das hat mit den anderen Bauern meines Landes nichts zu tun, denn ich entscheide. Und für die anderen Bauern sind ja deren Adlige zuständig.'

In einem Nationalstaat sollten sich die Menschen aber nicht auf einen einzelnen Adligen oder den König beziehen, sondern sich als Teil einer großen einheitlichen Gemeinschaft fühlen und handeln.

Lukas Epperlein, Institut für digitales Lernen.

2. Die deutschen Siedler sollen Russen werden

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Galerie: Mennoniten und Militärdienst

Eine gesetzliche Ausnahme ermöglichte es den Mennoniten, statt Militärdienst zivile Arbeit zu leisten. Das Bild zeigt Männer in einem Waldarbeiterlager bei Anandol in der Ostukraine.

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Galerie: Mennoniten und Militärdienst

Schätzungsweise verrichteten während des Ersten Weltkriegs etwa 14.000 Mennoniten in ganz Russland einen alternativen Arbeitsdienst, ungefähr 7.000 von ihnen als Waldarbeiter. Hier siehst du die Männer bei einer Pause.

In dem Russland, dass sich Alexander II. wünschte, war für deutsche Siedler, die auch gerne ihre kulturellen deutschen Eigenarten und Privilegien behalten wollten, kein Platz. Die russische Regierung wollte einen einheitlicheren Staat schaffen. Daher galt: Wer an der Wolga sein Land bestellte und Gewerbe trieb, der sollte Russe sein. Und wenn er das noch nicht war, musste er es schnell werden.

Zunächst wurden den Siedlern ihre von Katharina zugesicherten Privilegien gestrichen. Ihre Dörfer wurden in die russische Verwaltung eingegliedert, ihr Schul- und Kirchenwesen durften sie nicht mehr unabhängig, sondern nur noch in Absprache mit den russischen Behörden gestalten. An die Schulen wurden russische Lehrer geschickt. Diese sollten dafür sorgen, dass die Siedler die russische Sprache lernen. Das hatten sie in der Vergangenheit nur selten getan.

Besonders hart traf die Siedler aber der Beschluss von 1874, in dem festgelegt wurde, dass sie von nun an auch Dienst in der russischen Armee zu leisten hatten. Das bedeutete, sechs Jahre lang irgendwo in Russland beim Militär zu dienen und danach neun Jahre lang als Reservist im Kriegsfall jederzeit wieder eingezogen werden zu können. Für jede Bauernfamilie war es ein schwerer Schlag, die Arbeitskraft ihrer Söhne für so lange Zeit zu verlieren. Eine Katastrophe war diese Entscheidung für die strenggläubigen pazifistischen Mennoniten unter den Siedlern. Sie lehnten jede Form von Militärdienst aus religiösen Gründen ab. Und nach Russland waren sie gekommen, weil ihnen Katharina II. die Befreiung von jeglichem Militärdienst zugesichert hatte.

Darstellung 2

Über die Sprachkenntnisse der Russlanddeutschen

Den deutschen Kolonisten wurde oftmals vorgeworfen, dass sie kein Russisch sprechen könnten und sich auch keine Mühe machten, dies zu lernen. Hierdurch sei die Ausbildung der jungen Soldaten gefährdet, die teilweise schon seit mehreren Generationen in Russland lebten und dennoch kein Interesse an der Sprache und Kultur zeigten, die ihnen die Gastfreundschaft gewähre. Es wurde daher gefordert, dass die lokalen Verwaltungen das Erlernen der russischen Sprache stärker forcieren.

Sabrina Kölbel, Institut für digitales Lernen.

Darstellung 3

Die Abschaffung der Leibeigenschaft seit 1861 durch Alexander II. bedeutete formal auch eine Angleichung des russischen Bauernstandes an den der Deutschen. In Ermangelung einer Bodenreform erhielten aber die nun freigesetzten russischen Bauern nicht das Land, auf dem sie bislang gearbeitet hatten. Viele arbeiteten daher als Tagelöhner bei deutschen Bauern. Dies führte nicht selten zu Neid unter der russischen Bauernbevölkerung.

Das „Angleichungsgesetz“ aus dem Jahre 1871 sorgte dafür, dass der Sonderstatus der Kolonisten allmählich aufgehoben werden sollte. So wurden die Selbstverwaltungseinrichtungen aufgelöst, Russisch wurde Amts- und Schulsprache, der Militärdienst wurde 1874 verpflichtend. Diese Entwicklung kann nun einerseits als Förderung des Mitspracherechts, und insgesamt der Integration, andererseits als Versuch einer Bevormundung und Beitrag zur Assimilierung der Russlanddeutschen („Russifizierung“) angesehen werden.

Darstellung 4

Widerstand gegen die Änderungen in den Schulen

Das Gesetz vom 16. Juni 1871 sorgte dafür, dass den geistlichen Vorstehern der Kirchenschulen die Oberaufsicht entzogen wurde und die Schulen unter die Aufsicht der russischen Schulinspektion gestellt wurden. Dies sorgte zu heftigen Protesten der Kolonisten, die sich weigerten, einen an jeder Schule neu eingesetzten russischen Lehrer von der Gemeinde zu finanzieren. Teilweise kam es zu „Gewalttätigkeiten“ gegen die russischen Lehrer, da sie als „Eindringlinge“ angesehen wurden. Dies hatte zur Folge, dass die angeordneten Maßnahmen in vielen Dörfern nicht durchgeführt werden konnten.

Sabrina Kölbel, Institut für digitales Lernen.

Aufgabe 1

1. Beziehe die Darstellung 2 auf die im Lehrtext "Die deutschen Siedler sollen Russen werden" geschilderten Maßnahmen.

Erläutere den Zusammenhang der beiden Texte.

2. In der Galerie "Mennoniten und Militärdienst" wird das Schicksal der Mennoniten nach Einführung der Wehrdienstpflicht geschildert.

Vergleiche die Informationen der Galerie mit denen des Lehrtextes im Abschnitt "Die deutschen Siedler sollen Russen werden".

3. Formuliere diejenigen Sätze, die sich im Lehrtext auf die Mennoniten beziehen, neu.

3. Die erste große Auswanderungswelle

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Galerie: Auswanderung nach Übersee

Zwischen 1870 und 1917 gab es große Auswanderungswellen aus vielen europäischen Ländern auf die amerikanischen Kontinente. Dieses Bild aus der deutschen Zeitschrift 'die Gartenlaube' von 1854 zeigt ein transatlantisches Passagierschiff im Querschnitt.

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Galerie: Auswanderung nach Übersee

In den Vereinigten Staaten und dem Westen Kanadas gründeten die Auswanderer neue russlanddeutsche Gemeinden. Viele Familien zogen in die Great Plains im Mittleren Westen der USA, die landschaftlich den Steppen Russlands ähneln. Hier siehst du ein provisorisches Übergangsquartier für Russlanddeutsche aus dem Wolgagebiet in Kansas, USA, 1875.

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Galerie: Auswanderung nach Übersee

Anders als die meisten Migranten in die USA wollten die Russlanddeutschen dort weiterhin hauptsächlich in der Landwirtschaft arbeiten. Diese konservativen Mennoniten verrichten die Feldarbeit ganz ohne moderne Maschinen, Pennsylvania, USA, 1941.

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Galerie: Auswanderung nach Übersee

Außer nach Nordamerika wanderten viele Russlanddeutsche auch in mittel- und südamerikanische Länder aus und bildeten dort eigene kleine Gemeinschaften, die ihre Kultur, Sprache und Religion zu wahren suchen. Für konservative Glaubensgemeinschaften boten und bieten sich hier Möglichkeiten einen traditionellen Lebensstil ohne Maschinen zu führen, wie diese Mennoniten in San Ignacio, Paraguay.

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Galerie: Auswanderung nach Übersee

Die größten mennonitischen Gemeinden finden sich in Mexiko, Bolivien, Paraguay und Belize. Diese Männer Fischen auf dem New River im zentralamerikanischen Belize.

Manche der Siedler, gerade die strenggläubigen Mennoniten, wollten sich dem Militärdienst nicht beugen. Sie hatten Deutschland verlassen, um nicht Soldaten werden zu müssen. Nun fassten viele den Entschluss, auch Russland zu verlassen. Der Zar wollte sich nicht mehr an die Zusagen seiner Vorgängerin Katharina II. halten, also sahen auch sie keinen Grund mehr, weiter unter russischer Obrigkeit zu leben.

Einige von ihnen suchten in Zentralasien, etwa in Kirgisistan und Usbekistan, eine neue Heimat. Andere wanderten nach Übersee, vor allem nach Argentinien, Paraguay, Brasilien und Kanada aus. Dort gründeten sie neue Kolonien, die teilweise bis heute bestehen.

Die russische Regierung war gegen diese Auswanderungen. Trotz der Reformgesetze zur Steigerung der Leistungsfähigkeit Russlands und der nationalen Identität seiner Bewohner wollten die Behörden die Siedler im Land halten. Immer noch waren sie für die Modernisierung Russlands wichtig. So versicherten die Behörden den Mennoniten bald, dass sie in der Armee keine Waffen tragen müssten, sondern lediglich als Handwerker oder Sanitäter eingesetzt werden würden.

Darstellung 5

Ein Film über die Nachfahren mennonitischer Auswanderer in Paraguay

Über diesen Link findest du einen kurzen Film über die Nachfahren mennonitischer Auswanderer in Paraguay.

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Darstellung 6

Ein Auswandererlied der Mennoniten aus dem 19. Jahrhundert

Auswandererlied

Hier in Russland ist nicht zu leben,
Weil wir müssen Soldaten geben,
Und als Ratnik müssen wir stehn –
Drum wollen wir aus Russland gehen.

In Saratow du deutsch Kontor,
Bring uns lauter Deutsche vor,
Hin nach dem brasilischen Ort,
Keinen Winter gibt es dort.

Was wir haben uns erspart,
Kostet's uns auf dieser Fahrt
Hin nach dem brasilischen Ort,
Keinen Winter gibt es dort.

Wenn wir nach Stadt Hamburg kommen,
wird uns unser Geld genommen,
Wenn wir fahren bis ans Meer,
werden unsere Säcklein leer.

Wenn wir auf dem Wasser fahren,
Schickt uns Gott einen Engel dar.
Gott, streck aus deine milde Hand,
Daß wir kommen an das Land.

Wenn wir von dem Schiff absteigen,
Ziehen wir in Gottes Namen;
Wenn wir auf dem Wagen fahren,
Werden wir wilde Schwein gewahr.

Trauben wachsen hinter Zäun,
Hutzeln an den hohen Bäum,
Aepfel, Feigen, die sind rot –
Hilf uns Gott aus aller Not!

Aufgabe 2

1. Im Abschnitt "Die erste große Auswanderungswelle" wird von einer russischen Identität gesprochen. Setze dich mit diesem Begriff unter Heranziehung der Inhalte des Kapitels 3 in diesem Buch auseinander.

2. Beurteile die Bemühungen der russischen Regierung um eine nationalstaatliche Modernisierung des Landes.