Nach der Oktoberrevolution bekommen die Russlanddeutschen tatsächlich ihre eigene Republik. Mich interessiert, welche Ziele die Deutschen, aber auch die Russen mit der Autonomie eines russlanddeutschen Gebiets verfolgen. War das Wolga-Gebiet der Russlanddeutschen tatsächlich autonom? Und wie lebten die Menschen in ihrer Republik? War es überhaupt eine Republik?
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Autonomie: Erfüllung aller Hoffnungen?
6.2 Autonome Arbeitskommune und Wolgadeutsche Republik
1. Zwei Konzepte: das 'Wettrennen' um die autonome Wolga
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Galerie: Bürgerkrieg
Auf diesem Plakat siehst du Anton Denikin, den Kommandanten der ersten Division der russischen Freiwilligenarmee, die während des russischen Bürgerkriegs von 1918 bis 1920 im Einsatz war. Mit der Frage "Warum bist du nicht in der Armee?" sollten neue Rekruten gewonnen werden.
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Galerie: Bürgerkrieg
Hier siehst du Wladimir Iljitsch Lenin (1870 - 1924), den Sowietischen Revolutionsführer des Proletariats, mit einer Gruppe Kommandanten auf dem Roten Platz am 25. Mai 1919. Er inspiziert Vsevobuch-Truppen. Mit diesem Begriff wurden Ausbildungseinheiten neuer, schnell gebildeter Truppen bezeichnet, die aus Arbeitern bestehen.
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Galerie: Bürgerkrieg
Hier siehst du ein Propagandaplakat der Weißen Bewegung (dargestellt als Ritter), die sich gegen die Bolschewiki (dargestellt als roter Drache) und die Sowjetunion stellten. Der Spruch lautet: "Für ein vereintes Russland".
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Galerie: Bürgerkrieg
Hier siehst du ein Gruppenfoto mit Infanterieeinheiten der Russischen Freiwilligenarmee.
Bürgerlich-liberale Vertreter der Wolgadeutschen trafen sich im Februar 1918 zu einem großen Kongress in Warenburg (Wolga-Gebiet). Sie wollten die deutschen Siedlungen an der Wolga schützen. Die Bolschewisten hatten sich nämlich nicht als freundliche Revolutionäre erwiesen. Erst hatten sie das Dekret über die Verstaatlichung von Grund und Boden erlassen und dann die Kornspeicher beschlagnahmt. Ein Bürgerkrieg war ausgebrochen. Der Kampf zwischen Roter und Weißer Armee – also zwischen Anhängern und Gegnern der kommunistischen Revolution – führte zu Chaos und Plünderungen in den Dörfern. Die Wolgadeutschen sahen sich stark bedroht.
Delegierte des bürgerlichen Kongresses brachen deshalb im April 1918 nach Moskau zu Verhandlungen mit der neuen Regierung auf. Sie wollten einen Entwurf für eine innerrussische, autonome Wolgadeutsche Republik unterbreiten. Diese Republik sollte von den russischen Kreis- und Bezirksverwaltungen befreit und direkt der Moskauer Regierung unterstellt sein.
Doch der Volkskommissar für Nationalitätenfragen Josef Stalin (1878-1953) war über den Besuch der Delegation nicht sehr erfreut. Als bürgerliche Demokraten hatten die Mitglieder der Delegation bei den kommunistischen Führern in Moskau kaum eine Chance auf ernsthafte Verhandlungen.
Währenddessen traf eine zweite Delegation im Kreml ein. Ihre Mitglieder kamen vom Bund deutscher Sozialisten und traten ebenfalls für eine Autonomie ein. Nach ihren Vorstellungen sollte diese aber nicht im Sinne der Warenburger Konferenz organisiert werden. Die Sozialisten konnten Josef Stalin ihre Pläne vortragen. Sie plädierten für eine sozialistische Machtergreifung an der Wolga, um eine nationale Selbstverwaltung innerhalb der Sowjetunion zu errichten. Stalin war durchaus angetan und stimmte schließlich einem solchen Projekt zu.
Quelle 1
Der Schriftsteller und Zeitzeuge Georg Löbsack (1893-1936) über die deutsche Autonomie im Jahr 1936
Quelle 1
Der Schriftsteller und Zeitzeuge Georg Löbsack (1893-1936) über die deutsche Autonomie im Jahr 1936
Da konnte die parteilose Intelligenzija nichts anderes tun als versuchen, das wolgadeutsche nationale Bewusstsein innerhalb der Sowjetautonomie durch die Pflege unserer Volkskultur zu stärken, wo und wie immer es möglich ist.
Uns schwebte vor, einen nationalkulturellen Kern in dieser Autonomie nicht nur zu erhalten, sondern ihn auch für die wahre wolgadeutsche Selbstverwaltung zu entwickeln, die einmal kommen werde. Denn dass Russland früher oder später vom Bolschewismus frei werden würde, das glaubten wir fest, und nur dieser Glaube hielt uns im Innern noch beisammen.
Intelligenzija: Das russische Wort bezeichnet die gesellschaftliche Gruppe der höher gebildeten Menschen, die ein Studium absolviert haben und in Berufen arbeiten, für die es vor allem auf die geistigen Fähigkeiten ankommt (zum Beispiel Künstler, Lehrer, Professoren usw.)
Quelle 1
Quelle 1
An das Komitee deutscher Sozialisten des Saratover Gouvernements. […] Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen bezüglich der Erklärung Ihrer Delegation, vertreten durch die Genossen Klinger, Emrich und Köhler, gegenüber dem Volkskommissariat für Nationalitätenangelegenheiten mitzuteilen, dass die Regierung erfreut sein kann über das Erwachen der deutschen werktätigen Massen, die sich endlich entschieden haben, den Aufbau ihres Volksschulwesens und der gesamten Selbstverwaltung des Volkes auf Grundlage der Rätebildung in die eigenen Hände zu nehmen. Die Regierung vertraut darauf, dass die deutschen Arbeiter und armen Bauern, zusammengeschlossen in Deputiertenräten, die Macht in ihre Hände nehmen und Schulter an Schulter mit den russischen Werktätigen zum Sozialismus voranschreiten werden. Wir zweifeln nicht daran, dass Ihr Komitee alle Kräfte einsetzen wird, um gemeinsam mit den zu Ihnen delegierten bewährten Genossen Reuter und Petin in Ihrem Tätigkeitsbereich den endgültigen Triumph des Sozialismus herbeizuführen.
Der Volkskommissar für Nationaliätenangelegenheiten
J. Stalin.
Telegramm: schnelle Übermittlung von Nachrichten durch einen Telegrafie-Gerät, das über leitende Kabel elektrische Signale sendet
Rätebildung: Statt demokratisch gewählte Abgeordnete strebten die Kommunisten die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten an. Diese sollten die Entscheidungen der sozialistischen Partei durchsetzen und damit ihre Macht stärken.
Depurtiertenräte: Als Deputierte werden hier die Mitglieder eines Rates bezeichnet. Diese bilden den Rat.
2. Die Errichtung der Arbeitskommune
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Das Gebiet der Arbeitskommune 1922
Das Gebiet der Arbeitskommune 1922
Der Bund deutscher Sozialisten hatte also den ungleichen Wettkampf mit den bürgerlichen Vertretern des wolgadeutschen Kongresses gewonnen. Der wahre Sieger war jedoch die Moskauer Regierung. Sie bestimmte den Weg zur Autonomie der Wolgadeutschen. Ein Stalin unterstelltes 'Kommissariat für wolgadeutsche Angelegenheiten' wurde geschaffen, das die Einzelheiten der Autonomie ausarbeiten und kontrollieren sollte.
Den Vorsitz dieses Kommissariats erhielten die treuen Sozialisten Ernst Reuter und Karl Petin. Beide waren ehemalige Kriegsgefangene. Reuter war ein Deutscher, der während des Weltkriegs als kaiserlicher Soldat in russische Kriegsgefangenschaft geraten war und Petin ein Österreicher, der Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands geworden war.
Das Kommissariat überlies nichts dem Zufall: Im Siedlungsgebiet der Russlanddeutschen an der Wolga wurden umgehend alle bürgerlichen Institutionen aufgelöst. Die sozialistischen Kommissare trieben die gesellschaftliche Umgestaltung im Sinne der Bolschewiki mit allen Mitteln voran. Sie setzten zum Beispiel Dorf- und Gebietssowjets ein. Am 19. Oktober 1918 verkündete der Rat der Volkskommissare für innere Angelegenheiten das 'Dekret über die Autonomie des Gebietes der Wolgadeutschen' und rief die 'Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen' aus. An deren Spitze standen neben Ernst Reuter und Karl Pentin auch Arthur Ebenholz. Die Wolgadeutschen hatten nun eine Art eigene Republik, die Moskauer Regierung aber behielt die Kontrolle in der Hand.
Quelle 2
Dekret über die Gründung der Arbeitskommune des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen (Oktober 1918)
Quelle 2
Dekret über die Gründung der Arbeitskommune des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen (Oktober 1918)
1. Die Ortschaften, die von den deutschen Kolonisten des Wolgagebietes besiedelt werden [...] bilden in Anwendung des Artikel 11 des Grundgesetzes der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik eine Gebietsvereinigung mit dem Charakter einer Arbeitskommune, in deren Bestand die entsprechenden Teile der Territorien der Kreise Kamyschin und Atkarsk des Gouvernements Saratow und der Kreise Nowousensk und Nikolajewsk des Gouvernements Samara eingegliedert werden. [...]
3. In genauer Übereinstimmung mit Artikel 11 des Grundgesetzes wählt der Kongreß der Deputiertensowjets [...] ein Exekutivkomitee, das Zentrum der sozialistischen Sowjetarbeit unter der werktätigen deutschen Bevölkerung ist, die richtige Durchführung der Dekrete und Verfügungen der Sowjetmacht überwacht und diesbezüglich der erforderlichen Anordnungen an die Orte erteilt.
4. Alle Macht an den Orten innerhalb der Grenzen, die durch Artikel 61 des Grundgesetzes in dem gemäß Punkt 1 vereinigten Territorium bezeichnet sind, liegt beim Exekutivkomitee, [...].
7. Das kulturelle Leben der deutschen Kolonisten: der Gebrauch ihrer Muttersprache in den Schulen, in der örtlichen Verwaltung, im Gericht und im öffentlichen Leben unterliegt gemäß der Sowjetverfassung keinerlei Einschränkung.
Der Rat der Volkskommissare bringt seine Gewißheit zum Ausdruck, daß bei Verwirklichung dieser Grundsätze der Kampf für die soziale Befreiung der deutschen Arbeiter und der deutschen Dorfarmut im Wolgagebiet keinen nationalen Hader hervorrufen, sondern, im Gegenteil, die Annäherung der deutschen und der russischen werktätigen Massen fördern wird, deren Zusammenschluß das Unterpfand für ihren Sieg und für Erfolge in der internationalen proletarischen Revolution ist.
Der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, W. Uljanow (Lenin)
Der Sekretär des Rats der Volkskommissare, L. Fotijewa
Moskau, Kreml, 19. Oktober 1918
Quelle 3: Link actualisieren
Quelle 3
Allgemeines Statut des Kommissariats für wolgadeutsche Angelegenheiten (1918)
Quelle 3
Allgemeines Statut des Kommissariats für wolgadeutsche Angelegenheiten (1918)
1. Das Kommissariat ist der geistige Mittelpunkt der sozialistischen Arbeit unter der deutschen arbeitenden Bevölkerung.
2. Das Kommissariat überwacht die Durchführung der Dekrete und Verfügungen der Sowjetregierung.
3.
Das Kommissariat hilft der Vereinigung der arbeitenden Massen der
deutschen Kolonien in Bezirksräten, mit Rücksicht auf die besonderen
Bedingungen ihrer Sprache, Sitte und Gebräuche. Die Vereinigung wird
durchgeführt im Einvernehmen mit den örtlichen Gouvernementsräten, wenn
die deutschen Räte einen diesbezüglichen Wunsch äußern.
4. Beschlüsse
der Bezirks- und Gouvernementsräte, die die Interessen der arbeitenden
Bevölkerung der deutschen Kolonien berühren, werden nur mit Wissen und
Einverständnis des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im
Wolgagebiet durchgeführt.
Hinweis:
Wenn du dir das Statut im Original ansehen möchtest, kannst du das hier
tun. Unter diesem Link findest du auch noch andere interessante
Quellendokumente aus der ersten Zeit der wolgadeutschen Republik.
3. Hungersnot in den Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen
Winter 1921. Der Bürgerkrieg war zu Ende, die Nahrungsreserven auch. Der folgende Sommer brachte wegen einer Dürre kaum Ertrag. In den Landstrichen der Schwarzmeer- und Wolgadeutschen litten die Menschen unter einer schrecklichen Hungersnot, doch nicht nur dort.
Die Gedanken der Menschen drehten sich überall nur ums Essen. Die Nahrungsbeschaffung wurde zu einem Überlebenskampf. Auf der Suche nach Essbarem wurden die Menschen wieder zu Jägern und Sammlern. Der Höhepunkt der Hungersnot traf die Menschen im Frühjahr 1922. Das Motto jener Zeit war: 'Wenn Du nicht sterben willst, musst du essen, egal was!' Gerüchte über Kannibalismus kamen auf. Geld spielte keine Rolle mehr, denn zu kaufen gab es nichts. Stattdessen blühte der Tauschhandel.
Die Wenigen, die Brot hatten, nutzen die Lage für unwürdige Tauschgeschäfte aus. Insgesamt verhungerten bis 1923 in Russland etwa fünf Millionen Menschen, davon waren 47.777 Wolgadeutsche. Ohne internationale Hilfsorganisationen wären noch viel mehr Menschen gestorben. Sie versorgten täglich Millionen, bewahrten ganze Dörfer vor dem Aussterben. Menschen, die eine Möglichkeit sahen, das Land zu verlassen, flohen aus dem Elend. So verlor das Siedlungsgebiet der Deutschen an der Wolga weitere 74.000 Einwohner. Sie gingen innerhalb Sowjetrusslands in Gegenden, in denen die Not nicht so groß war oder verließen das Land in Richtung Deutschland.
Darstellung 1
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Die Arbeitskommune umfasste 214 Dörfer und die Verwaltungsbezirke Sellmann, Balzer und Katharinenstadt. Das entsprach einer Gesamtfläche von 19.624 km². Als Hauptstadt wurde zunächst Saratov bestimmt, im Mai 1919 trat es das Privileg an Katharinenstadt (ab 4. Juni 1919 Marxstadt) bereits wieder ab.
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Ursachen und Folgen der Hungerkatastrophe
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Ursachen und Folgen der Hungerkatastrophe
Ursachen:
- 'Kriegskommunismus':
- Bevorzugung der Roten Armee und der kommunistischen Verwaltungen bei der Versorgung
- Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele durch die Kommunisten
- Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Landbesitz, Industrieanlagen, Banken usw.) - Bürgerkrieg:
- Plünderungen durch die Kriegsparteien, Verwüstungen durch Banden
- Beschaffungskommandos beschlagnahmten rücksichtslos alle Lebensmittelreserven, oftmals auch das Saatgut für den Kampf der Roten Armee gegen die Weiße Armee der Anhänger des Zarenreichs.
- Den Bauern wurden trotz der Missernte unerfüllbar hohe Abgabenlasten auferlegt. Wer wenig lieferte musste mit Bedrohung oder grausamer Bestrafung rechnen (Verhaftungen, Geiselhaft der Familienmitglieder, Scheinerschießungen, Schläge).
- Die russlanddeutschen Bauern am Schwarzen Meer und an der Wolga litten besonders, da sie im Vergleich zu anderen Minderheiten doppelt so viele Abgaben zu erbringen hatten. - Dürre in weiten Teilen Russlands vom Winter 1920 bis zum Sommer 1921:
In den Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen an der Wolga und der Ukraine verdorrte das Getreide. Es folgte eine katastrophale Missernte. - kommunistische Enteignungspolitik:
Das 'Dekret über den Grund und Boden' führte zu einer starken Beschneidung des privaten Ackerbesitzes. Für die landwirtschaftliche Bestellung stand nun plötzlich viel weniger Anbaufläche zur Verfügung, weil die kollektiv organisierte Landwirtschaft nicht in Gang kam. Das führte zu einer Ertragskrise der russischen Landwirtschaft.
Folge:
Im
Winter 1921/22 setzte eine große Hungersnot ein. Schätzungsweise 25
Millionen Menschen mussten in Russland hungern. Im Gouvernement von
Saratov war die Katastrophe am schlimmsten. Hier wohnten 2.9 Millionen
Menschen. Zum Jahreswechsel 1921/22 litten von diesen etwa 2.1 Million
Menschen an Unterernährung.
Der Bund deutscher Sozialisten hatte also den ungleichen Wettkampf mit den bürgerlichen Vertretern des wolgadeutschen Kongresses gewonnen. Der wahre Sieger war jedoch die Moskauer Regierung. Sie bestimmte den Weg zur Autonomie der Wolgadeutschen. Ein Stalin unterstelltes 'Kommissariat für wolgadeutsche Angelegenheiten' wurde geschaffen, das die Einzelheiten der Autonomie ausarbeiten und kontrollieren sollte.
Den Vorsitz dieses Kommissariats erhielten die treuen Sozialisten Ernst Reuter und Karl Petin. Beide waren ehemalige Kriegsgefangene. Reuter war ein Deutscher, der während des Weltkriegs als kaiserlicher Soldat in russische Kriegsgefangenschaft geraten war und Petin ein Österreicher, der Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands geworden war.
Das Kommissariat überlies nichts dem Zufall: Im Siedlungsgebiet der Russlanddeutschen an der Wolga wurden umgehend alle bürgerlichen Institutionen aufgelöst. Die sozialistischen Kommissare trieben die gesellschaftliche Umgestaltung im Sinne der Bolschewiki mit allen Mitteln voran. Sie setzten zum Beispiel Dorf- und Gebietssowjets ein. Am 19. Oktober 1918 verkündete der Rat der Volkskommissare für innere Angelegenheiten das 'Dekret über die Autonomie des Gebietes der Wolgadeutschen' und rief die 'Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen' aus. An deren Spitze standen neben Ernst Reuter und Karl Pentin auch Arthur Ebenholz. Die Wolgadeutschen hatten nun eine Art eigene Republik, die Moskauer Regierung aber behielt die Kontrolle in der Hand.
Quelle 4
Das Grauen an der Wolga: Auszug aus dem Bericht einer staatlichen Kommission über die Folgen des Hungers
Quelle 4
Das Grauen an der Wolga: Auszug aus dem Bericht einer staatlichen Kommission über die Folgen des Hungers
Augenblicklich ernährt sich die Bevölkerung mit verschiedenen Gräsern, Kräutern, Zwiebeln, Knoblauch, Hunden, Katzen, Ratten, Fröschen, Zieselmäusen, Igeln und an der Wolga gesammelten toten Fische. Ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung verzehrt noch die letzten Reste seines Milch- und Arbeitsviehes. Die Kommission hat einzelne Fälle festgestellt, wo ganze Familien hilflos, nicht mehr imstande sich zu bewegen, in den Häusern umherlagen, wo und wie es der Zufall wollte, ohne jegliche Aufsicht und Pflege, ihre eigenen Exkremente unter sich hervorholten und mit den Händen in den Mund schleppten. […] In einem anderen Hause wurden Kinder von 7-17 Jahren beim Benagen der Knochen eines geschlachteten Hundes angetroffen. Der Zustand der genannten Kinder, vier an der Zahl, war traurig, alle waren angeschwollen, abgemagert, und entkräftet, unfähig eine selbstständige Bewegung zu machen.
Exkremente: menschliche Ausscheidungen (Kot, Urin)
Johannes Schleuning, In Kampf und Todesnot. Die Tragödie des Russlanddeutschtums, Berlin 1930, S. 158f.
Quelle 4
Quelle 4
Augenblicklich ernährt sich die Bevölkerung mit verschiedenen Gräsern, Kräutern, Zwiebeln, Knoblauch, Hunden, Katzen, Ratten, Fröschen, Zieselmäusen, Igeln und an der Wolga gesammelten toten Fische. Ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung verzehrt noch die letzten Reste seines Milch- und Arbeitsviehes. Die Kommission hat einzelne Fälle festgestellt, wo ganze Familien hilflos, nicht mehr imstande sich zu bewegen, in den Häusern umherlagen, wo und wie es der Zufall wollte, ohne jegliche Aufsicht und Pflege, ihre eigenen Exkremente unter sich hervorholten und mit den Händen in den Mund schleppten. […] In einem anderen Hause wurden Kinder von 7-17 Jahren beim Benagen der Knochen eines geschlachteten Hundes angetroffen. Der Zustand der genannten Kinder, vier an der Zahl, war traurig, alle waren angeschwollen, abgemagert, und entkräftet, unfähig eine selbstständige Bewegung zu machen.
Exkremente: menschliche Ausscheidungen (Kot, Urin)
Quelle 4
Quelle 4
Die Lage der deutschen Kolonien an beiden Ufern der mittleren Wolga [...] wird von Tag zu Tag schlimmer. Die terroristischen Überfälle von Seiten der bolschewistischen Roten Gardisten, die seit Dezember 1917 stattfinden, nehmen Dimensionen an, die zur Annahme nötigen, als sei es auf die Vernichtung der Kolonien abgesehen. Unter dem Vorwande der Requisition wird den Leuten das letzte Mehl und Korn, Pferde und Kühe weggeführt, Schafe und Rinder abgeschlachtet. Viele Bauern sind dadurch der Möglichkeit, ihre Felder zu bestellen und die Frühjahrsaussaat zu besorgen, beraubt. Wer sein Gut zu verteidigen sucht, wird hingemordet.
Beispiele: In einem Dorfe, namens Schaffhausen, sind über hundert Männer, Frauen und Kinder hingemordet und ist fast alle Habe der Leute weggeführt und zerstört worden. Ein ähnliches Schicksal erreichte die Kolonien Basel, Zärig, Bettinger (russisch = Baratajewka), Glarus und andere. Den einzelnen Kolonien werden "Kontributionen" von vielen Millionen auferlegt, die besten Männer als Geiseln ins Gefängnis geworfen. [...]
Da die deutsche Regierung die deutschen Kolonisten, die zurückwandern wollen in die alte Heimat und deren Vermögen laut dem Brester Friedensvertrag [...], geschützt wissen will, können die so schwer Heimgesuchten nur von Deutschland Schutz und Hilfe erwarten. Diese Hilfe, um die die bedrängten Kolonisten dringend bitten, muss bald geschehen, wenn nicht ihr ganzes von hunderten von Millionen zählendes Vermögen und viele kostbare Menschenleben zugrunde gerichtet werden sollen.
Kontributionen: Geldzahlungen oder andere Abgaben, die von der Bevölkerung eines Landes in Kriegszeiten zur Unterhaltung einer Armee (sehr oft einer gegnerischen Besatzungsarmee) geleistet werden sollen. Diese Zahlungen werden in vielen Fällen mit Gewalt erzwungen.
Brester Friedensvertrag: Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland vom 3. März 1918. In einem Zusatzvertrag zu diesem Friedensvertrag wurde denjenigen Russlanddeutschen, die nach Deutschland auswandern wollten, Schutz versprochen. Siehe dazu Darstellung 5 im letzten Kapitel.
Darstellung 2
Die Anfänge des kommunistischen Staates in Russland: ein hoher Blutzoll
Darstellung 2
Die Anfänge des kommunistischen Staates in Russland: ein hoher Blutzoll
In der Zeit von 1917-1922 starben in Russland und Sowjetrussland 13 Millionen Menschen:
- 2,5 Millionen Menschen wurden Opfer des Bürgerkriegs.
- 1,5 bis 2 Millionen wanderten aus.
- 2 Millionen Menschen starben an Epidemien.
- 1 Millionen Menschen starben durch Terror und Bandenüberfälle.
- 300.000 Menschen wurden Opfer von Pogromen gegen Juden.
- 5 Millionen Menschen fielen der Hungersnot der Jahre 1921/1922 zum Opfer.
Die russlanddeutsche Bevölkerung verringerte sich in den Jahren von 1919 bis 1926 von 1,621 Millionen auf 1,238 Millionen Menschen.
Darstellung 2
Darstellung 2
Hinweis: Der deutsche Außenminister Walther Rathenau (1867-1922) sprach sich gegenüber dem deutschen Reichskanzler am 1. März 1922 für Hilfsleistungen aus. Er verband damit folgende Überlegungen:
Als Absatzgebiete für unsere landwirtschaftliche Industrie und für die Zukunft als Quelle reicher exportfähiger Bodenerzeugnisse können wir uns Südrußland nur sichern durch sofortige Linderung seiner Notlage, indem wir die Bevölkerung instand setzen, am Platze zu bleiben und das Land zu bearbeiten.
Linderung: Erleichterung
4. Gründung der Wolgadeutschen Republik
Im Herbst 1923 ging es dann endlich wieder aufwärts für die Arbeitskommune an der Wolga. Die schreckliche Hungersnot schien mit der guten Ernte von 1923 überwunden zu sein und auch politisch tat sich etwas für die Wolgadeutschen. Die Regierung in Moskau war endlich bereit, ihnen ihre eigenen Republik zu geben.
Das Ziel der Regierung war es weiterhin, sich die Deutschen Siedler gewogen zu machen und sie für den Kommunismus zu gewinnen. So hoffte sie, dass die Wolgadeutschen zu einer Revolution im sowjetischen Sinne in der Weimarer Republik beitragen könnten. Die im Jahr 1923 von den deutschen Kommunisten ausgehenden politischen Unruhen in Deutschland hatten den Traum der Bolschewiki von einem 'Sowjetdeutschland' wieder entfacht.
Die Hoffnung auf die baldige Weltrevolution und die Annahme, dass die internationalen Finanzzahlungen somit erhalten bleiben würden, gaben den Ausschlag für eine Ausweitung der wolgadeutschen Autonomie. Am 6. Januar 1924 riefen die Bolschewiki die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) aus.
Darstellung 3
Darstellung 3
Durch den Bürgerkrieg kam es vielerorts zu einem Machtvakuum aufgrund des Kampfes Weiße gegen Rote Armee. Daraus widerten die anarchistische Bewegungen ihre Chance, die Ukraine mit Waffengewalt an sich zu reisen. Viele Banden taten es ihnen gleich und griffen zum Gewehr, doch hatten sie es „nur“ auf den Besitz der reichen Siedler abgesehen. So organisierten die Deutschen einen bewaffneten Selbstschutz gegen die Angriffe. Selbst die lebend Mennoniten, die nach dem Prinzip der Wehrlosigkeit lebten, griffen zur Waffe als ihre Bezirke Prisib und Moločnaja angegriffen wurden. Das hatte es ihrer Geschichte noch nie gegeben! Unmittelbar Schuld daran war die berühmt berüchtigte Anachogruppe des Nestor Mancho. Als er sich kurzzeitig mit der Roten Armee verbündete, griff er mit ihnen zusammen die Mennoniten an. Sie erwiderten das Feuer, wehrten wohl auch den Angriffe ab und dennoch wurden ihre Bezirke umgehend von den Anarchisten besetzt. Wie es dazu kommen konnte? Sie hatten erfahren, dass sie auf die Rote Armee geschossen hatten, dabei hatten sie vor Gott geschworen nur auf Banden zu schießen. Sie nahmen nie wieder eine Waffe in die Hand.
Darstellung 4
Darstellung 4
Die Gesamtfläche der Republik betrug bei der Gründung 25.447 km². Hier lebten insgesamt 454.358 Deutsche, was einem Bevölkerungsanteil von 67,9 Prozent entsprach. Traditionell war das Gebiet der Republik landwirtschaftlich geprägt. In der Republik gab es nicht weniger als 91.000 Bauernwirtschaften.
Vertreten wurden die Menschen der Republik vom wolgadeutschen Rätekongress, zu dem 300 Deputierte aus den örtlichen Dorfsowjets berufen wurden. Aus ihnen rekrutierte sich alljährlich das 65 Mitglieder umfassende Zentralvollzugskomitee.
Quelle 5
Quelle 5
§
Das Staatswappen der ASRR der Wolgadeutschen besteht aus einer Abbildung auf rotem Grund von Sichel und Hammer in den Strahlen der Sonne, die kreuzweise angebracht sind, der Handgriff nach unten mit der Aufschrift auf dem oberen Teile "RSFSR" und unten "ASRR d. W.-D." von einem Kranz aus Weizenähren umgeben, mit Bändern umbunden und der Aufschrift auf der rechten Seite "Proletarier aller Länder vereinigt euch" und auf der linken "Proletarii wesch stran sojedin jaites!"
Quelle 5
Quelle 5
Das Interesse an der Wolgarepublik als einem autonomen Staatsgebilde wächst im Westen, und von den Werktätigen selbst, so wie von ihren Leitern hängt es ab, die Republik zu einer wirklichen Bauernrepublik zu machen, in der die aus dem Westen kommenden Bauerndelegationen auf jeden Schritt den Beweis der Überlegenheit und der Vorteile des Sowjetsystems auch für das kultivierte westliche Bauerntum finden.
Hinweis: Edgar Groß war Vertreter der ASSRdW, also der Republik der Wolgadeutschen beim Moskauer Zentralexekutivkomitee. Sein Bericht stammt aus dem Jahr 1926.
Zentralexekutivkomitee: Es handelt sich um das oberste, die politischen Entscheidungen ausführende Organ. Es wurde gebildet aus der Versammlung aller Abgeordneten der Arbeiter- und Bauernräte (Sowjet = dt. Rat).
Quelle 6
Quelle 6
Quelle 6
Quelle 6
Hier kannst du dich genauer über das Gebiet der wolgadeutschen Republik und die deutschsprachigen Orte auf dem Gebiet der Republik informieren.
Darstellung 6
Darstellung 6
Das Korn war knapp! Der Sommer 1920 hatte bei Weitem nicht den gewünschten Ernteertrag eingebracht. Die Bolschewisten kümmerte das wenig. Die deutschen Bauern hatten weiterhin doppelt soviel Getreide als andere Minderheiten abzuliefern. Oftmals kamen die Beschlagnahmekommandos und entwendeten gewaltsam selbst noch die gesamten Frühjahrssaaten. Es knisterte in der deutschen Wolgaseele und vor lauter Verzweiflung wehrte sich der Bauer. Die zahlreichen Aufstände wollten den Geiselnahmen, Scheinerschießungen und Gewalttätigkeiten, die bei zu geringer Getreidelieferung an der Tagesordnung waren, Einhalt gebieten. Der bewaffnete Kampf ums Überleben prägte eine unerbittliche Brutalität. Jeder aufgegriffene Bolschewist wurde schlicht erschossen. Den Höhenpunkt erreichten die Bauernaufstände unter der Führung des ehemaligen russischen Offiziers Michail Pjatakow im Winter 1920/21. Doch schließlich setzte die übermächtige Rote Armee dem „Treiben“ Mitte April 1921 ein jähes Ende. Wer die verlustreichen Kämpfe überlebt hatte, brauchte nicht auf die Gnade der Bolschewisten hoffen. Viele, auch Unschuldige, wurden kurzerhand erschossen.
Darstellung 3
Darstellung 3
Staatsverfassungen ansehen? Vielen Menschen erscheint das zunächst langweilig. Und doch bekommt man bei Lesen von Verfassungen immer einen guten Eindruck davon, wie ein Staat so tickt, was er über sich und seine Werte zu sagen hat.
Das ist auch bei der Verfassung der ASSRdW der Fall. Die Wolgarepublik hatte ab dem 1. Januar 1926 endlich eine Verfassung.
- Das Text zeigt deutlich, dass auch die Republik wie die Arbeitskommune keine wirkliche Autonomie besaß: Die Republik wurde nicht als Staat bezeichnet. Sie hatte auch kein Gesetzgebungsrecht.
- Die Wolgadeutschen durften lediglich um eine Abänderung oder Aufhebung der Dekrete der Zentralregierung in Moskau bitten. Forderungen durften die Wolgadeutschen praktisch jedoch nicht stellen. Die Regelung zur Aufhebung oder Abänderung von Dekreten sollte daher nur den Anschein erwecken, die Wolgadeutschen könnten ihr Leben mitgestalten.
- Für die Verwaltung der Finanz- und Wirtschaftsaufgaben waren sogenannte vereinigte Volkskommissare für Finanzen und Arbeit, die Arbeiter- und Bauerninspektion und der Volkswirtschaftsrat zuständig. Diese waren den jeweils gleichnamigen Behörden in Moskau unterstellt.
- Die Volkskommissare für Innere Angelegenheiten, Justiz, 'Volksaufklärung', Gesundheit, Landwirtschaft, Sozialversicherung waren ebenso zentralen sowjetischen Instanzen gegenüber rechenschaftspflichtig.
Darstellung 5
Darstellung 5
- Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte (nicht in der Realität)
- Deutsch als Amtssprache
- Unterricht in Deutsch
- kulturelle Einheit und Unabhängigkeit (nicht in der Realität)
- Unterhaltung wirtschaftlicher Beziehungen zum Deutschen Reich (bis 1933 und zwischen 24. August 1939 und 22. Juni 1941)
Quelle 8
Quelle 8
Gehungert 823 Familien
verhungert 326 Personen
Krähen 469 Familien
Steppenmäuse 71 Familien
Pferdefleisch 755 Familien
Katzen 344 Familien
Gefallenes Vieh 308 Familien
Leder 250 Familien
Das Brot wurde aus allen möglichen und essbaren Zutaten zusammengebacken: u.a. Rüben, Spreu, Blätter, gemahlenen Knochen, Unkrautsamen, Baumrinden, Sägemehl etc."
Nach der Oktoberrevolution bekommen die Russlanddeutschen tatsächlich ihre eigene Republik. Mich interessiert, welche Ziele die Deutschen, aber auch die Russen mit der Autonomie eines russlanddeutschen Gebiets verfolgen. War das Wolga-Gebiet der Russlanddeutschen tatsächlich autonom? Und wie lebten die Menschen in ihrer Republik? War es überhaupt eine Republik?
Aufgabe 1
- Markiere in der Darstellung 2 und der Quelle 5 Motive dafür, dass führende Kommunisten die Gründung eines autonomen Gebiets der Russlanddeutschen unterstützten.
- Wie war das gleich mit Freiheit und Selbstbestimmung? Ich bin der Meinung, dass die Art und Weise der Gründung der Arbeitskommune ein Missbrauch des Dekrets über die Völker Russlands war (Quelle 9 im letzten Kapitel).
Nimm zu dieser Beurteilung Stellung.
Aufgabe 1
- Untersuche das Wappen der ASSR der Wolgadeutschen. Stelle in einem kurzen Vortrag die politischen Ansichten dar, die das Wappen deiner Meinung nach zum Ausdruck bringt.
- Charakterisiere die Wolgadeutsche Republik aus politischer Sicht.
- Beziehe dich dabei auf die Quellen sowie die Darstellungen.
- Wähle für die Charakterisierung aus der folgenden Wortliste diejenigen aus, die dir geeignet erscheinen:
Freiheit, Autonomie, Betrug, Vortäuschung, Ehrlichkeit, Sozialismus, neue Gesellschaft, Fortschritt, Rückschritt, Demokratie, Diktatur, Gerechtigkeit, deutsche Sprache