5.1 Blütezeit der russlanddeutschen Kultur

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Blühende Landschaften – selbst gebaut?

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5.1 Blütezeit der russlanddeutschen Kultur

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert war das goldene Zeitalter der deutschen Kolonisten an der Wolga. Durch harte Arbeit verwandelten sie die Steppe in fruchtbares Ackerland, bauten ihre Dörfer aus, errichteten Kirchen und Schulen und schufen sich so eine neue Heimat. Zusätzlich zu dem Wohlstand, den sie für sich erwirtschafteten, genossen sie auch über die meiste Zeit das Wohlwollen der russischen Regierung. Sie hatten aus einem unsicheren Grenzland einen Teil des russischen Staates gemacht. Sie zahlten Steuern, trieben Handel und trugen zur Entwicklung der ganzen Gegend bei.

1. Strenge Disziplin und blühende Landschaften

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Galerie: Blühende Landschaften

So haben sie angefangen: Bei ihrer Ankunft im zugewiesenen Siedlungsgebiet fanden die Kolonisten meistens gar nichts vor: keine Häuser, keine Baumaterialien, keine Werkzeuge. Um den ersten Winter (und oft auch den zweiten und dritten) zu überleben, mussten sie schnell lernen, die in der Steppe üblichen Erdhütten zu bauen. Dieses Foto stammt allerdings aus dem Jahr 1933.

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Galerie: Blühende Landschaften

Das Foto zeigt ein typisches russlanddeutsches Gehöft im Jahr 1912.

Nach ihrer Ankunft hatten die Kolonisten mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Klima an der Wolga und am Schwarzen Meer war anders als zu Hause: Im Sommer war es sehr heiß, im Winter bitterkalt. Die Steppenlandschaft war völlig unbebaut und musste erst tauglich für die Landwirtschaft gemacht werden. Nach einer unterschiedlich langen, schwierigen Anfangszeit entwickelten sich die Kolonien der deutschen Siedler aber sehr positiv. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts stiegen die Einwohnerzahlen stark an und der Reichtum der Dörfer wuchs. Dieser Wohlstand wuchs in den deutschen Dörfern in erheblich stärkerem Maß, als in den nicht-deutschen Dörfern der Umgebung. Woran lag das?

Sicher hatten die Deutschen mit ihren Privilegien gute Startbedingungen (siehe Kapitel 2.3). Sie waren frei (keine Leibeigenen), bekamen Land zugeteilt, hatten ihre Selbstverwaltung und mussten ihre Söhne nicht zum Militärdienst schicken. Aber der Erfolg der deutschen Siedler hatte auch etwas mit der Organisation ihrer Dörfer zu tun. Als Fremde in einem großen, oft unwirtlichen Land entwickelten die Siedler innerhalb ihrer Dörfer ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Sie schotteten sich nach außen ab und passten aufeinander auf bzw. kontrollierten sich. Die deutschen Dörfer wurden von gewählten Schulzen geleitet, die darauf achteten, dass alle Bewohner fleißig und sittsam waren. Verschwendung von Eigentum wurde nicht geduldet. Und wer es an Arbeitseifer fehlen ließ, musste sich dafür vor der Dorfgemeinschaft rechtfertigen. Durch harte Regeln und strenge Kontrolle zu Fleiß und Sparsamkeit angetrieben, waren die Siedler wirtschaftlich schnell erfolgreicher als ihre Nachbarn.

Quelle 1

Bericht eines russischen Generalstabsoffizier über die Russlanddeutschen im Jahr 1863

Die Kolonisten sind unsere Amerikaner, die die wüste Steppe in herrliche Dörfer mit Gärten und Fluren verwandeln, unsere kapitalistischen Landwirte, die von Jahr zu Jahr reicher werden und immer mehr Land einnehmen und ihm Wert zumessen und den Preis der Arbeit durch ihre außergewöhnliche Nachfrage erhöhen.

Die völlige Überzeugung von der Notwendigkeit der Arbeit, der Einfachheit des Lebens, die bis zum Stoizismus reicht, das Bewusstsein des sozialen Vorteils gegenseitiger Unterstützung und der Pflichten gegenüber der Regierung kennzeichnet sie.

Darstellung 1

Der wirtschaftliche Erfolg russlanddeutscher Bauern im 19. Jahrhundert

Mit der Reform Zar Alexanders II. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Land der Russlanddeutschen zu ihrem Eigentum. Das führte zu einer größeren Motivation, Besitz zu haben und die Landwirtschaft zu modernisieren. Viele Erfindungen und Neuerungen wurden gemacht:

  • eine regelmäßige Düngung mit vorhandenem Mist aus dem Stall;
  • die Bewässerung im Gartenbau;
  • die Einführung der Kartoffel;
  • die Konstruktion, Einführung und Verbreitung neuer Geräte (Egge mit eisernen Zähnen)
  • die Zucht von Merinoschafen
  • die Züchtung der 'roten deutschen Kuh' durch Kreuzung der friesischen Kuh mit der ukrainischen Steppenkuh.

Allein die Kolonisten an der Wolga brachten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu 320.000 Tonnen Getreide pro Jahr auf den Markt. Der in den Südkaukasus-Kolonien erzeugte Wein betrug vor 1914 ein Sechstel der gesamten Weinproduktion Russlands. Und die deutschen Handwerker in den Kolonien produzierten nicht nur für die deutschen Kolonisten, sondern auch für die russischen Nachbarn. Im Jahr 1852 bauten die Handwerker zum Beispiel im Schwarzmeergebiet 2.634 Pferdewagen. Diese wurden nicht nur von Landwirten, sondern auch vom russischen Militär gekauft.

Katharina Neufeld, Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold

Darstellung 2

Die religiösen Überzeugungen der Kolonisten

Die deutschen Kolonisten hatten bei ihrer Übersiedlung nach Russland natürlich auch ihre heimatliche Religion mitgebracht. Diese war, je nach Herkunftsregion, vor allem evangelisch und katholisch. Damit unterschieden sich die Kolonisten von den sie umgebenden russischen Bauern, die fast alle der russisch-orthodoxen Kirche angehörten.

Kolonisten unterschieden sich aber auch untereinander. Zusätzlich zu den beiden Hauptkonfessionen evangelisch-lutherisch und katholisch, waren unter den Kolonisten auch Anhänger kleinerer evangelischer Glaubensströmungen, etwa Mennoniten. Sie waren meistens sehr gläubig. Oft waren sie gerade wegen ihres Glaubens nach Russland ausgewandert. Katharina die Große hatte den Siedlern ja religiöse Freiheiten versprochen, die sie daheim in Deutschland so nicht gehabt hatten.

Aus ihrer Religiosität leiteten viele Siedler ihre grundlegende Haltung zum Leben ab: Ein gottgefälliges Leben sollte aus innerer Frömmigkeit, harter Arbeit und Disziplin bestehen. Luxus, Trägheit und Verschwendung lehnten sie ab. Mit solchen Werten lebten viele Siedler aber nicht nur ein gottgefälliges Leben. Sie wirtschaften auch sehr erfolgreich. Die religiösen Überzeugungen der Kolonisten waren also einer der Gründe, warum sie in Russland wirtschaftlich oftmals erfolgreich waren.

Lukas Epperlein, Institut für digitales Lernen.

Darstellung 3

Bevölkerungsentwicklung der Wolgadeutschen

Die Zahl der Wolgadeutschen wuchs vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stetig. Waren es in den 1770er-Jahren noch etwa 24.000 Menschen, wurden am Ende des 19. Jahrhunderts bereits 402.037 Menschen gezählt, die sich bis zum Jahr 1890 auf insgesamt 198 Kolonien verteilten. Auch der Landbesitz der Russlanddeutschen allein im Schwarzmeergebiet und an der Wolga vergrößerte sich auf 5,5 Millionen Hektar.

Tabelle 1 Bevölkerungsentwicklung der Wolgadeutschen (1769-1834)
JahrAnzahl deutscher Siedler an der Wolga
177325.781
181560.000
1850165.000
Zusammengestellt auf Grundlage von https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Russlanddeutschen [13.02.2025].

2. Arbeit – Kirche – Schule: das Leben im Dorf

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Galerie: Leben im Dorf

Alles, was die Siedler selbst herstellen konnten, mussten sie nicht kaufen. Die Herstellung von Stoffen und Kleidern war dabei die Aufgabe der Frauen.

Das Foto zeigt links ein Spinnrad, mit dem aus Schafswolle oder Pflanzenfasern Fäden gesponnen werden. Hinten in der Mitte sieht man eine Drehhaspel, auf der die Fäden aufgewickelt werden.

Mit einem Webstuhl (nicht im Bild) konnten dann aus den Fäden Tücher gewebt werden. Auf dem Nähtisch wurden die Tücher mit der Nähmaschine (rechts) zu Kleidungsstücken vernäht. Das Foto wurde, wie auch alle anderen Fotos in dieser Galerie, im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold aufgenommen.

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Galerie: Leben im Dorf

In einer Schreinerwerkstatt konnten Holzwerkzeuge und Möbel hergestellt und ausgebessert werden.

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Galerie: Leben im Dorf

Hufeisen, Scharniere, Beschläge, Nägel - wer eine Schmiede wie diese im Haus hatte, konnte all diese Dinge selber herstellen, bearbeiten und ausbessern.

Sieht man sich den Plan einer wolgadeutschen Siedlung im 19. Jahrhundert an, so fallen einem mehrere Merkmale auf: Das Dorf bestand aus mehreren, ähnlich oder sogar völlig gleich gebauten Gehöften. Diese wurden von geraden, sich rechtwinklig kreuzenden Straßen miteinander verbunden. Am Dorfrand befanden sich einige für das Dorfleben notwendige Betriebe, zum Beispiel eine Mühle oder ein Sägewerk. Und im Dorfzentrum befanden sich immer zwei Gebäude: die Kirche und die Schule.

Diese Gestaltung der Dörfer zeigt gut, woraus das Leben auf den Dörfern bestand: Die Arbeit auf dem Feld, im Haus und in der Werkstatt nahm den größten Raum ein. Unterbrochen wurde der von den Tages- und Jahreszeiten vorgegebene Arbeitsrhythmus nur von Sonntagen und kirchlichen Feiertagen. Die meisten der deutschen Siedler waren sehr religiös. Daher baute jedes neu gegründete Dorf so schnell wie möglich eine eigene Kirche. Dank der ihnen zugesicherten Religionsfreiheit konnten sie dort ihren mitgebrachten (meistens evangelischen) Glauben praktizieren.

Den Siedlern war auch die Bildung ihrer Kinder sehr wichtig. Deshalb bezahlten sie Lehrer und schickten ihre Kinder zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr zur Schule. Das Schuljahr dauerte von November bis März. In den anderen Monaten mussten die Kinder bei der Haus- und Feldarbeit mithelfen.

Quelle 2

Die deutschen Dörfer an der Wolga in einem Reisebericht

Ein spitzer Turm und Windmühlen – das ist eine deutsche Kolonie aus der Ferne. Kommt man näher, muß man durch einen halb ausgetrockneten Bach. Die Dorfstraßen sind wegen der Feuergefahr breit angelegt; die Zäune sind alle aus Weidenruten geflochten, denn Holz ist teuer. Nur spärliche Wälder verkrüppelter Eichen und Schlehen trifft man dann und wann.
Die Hauptpersönlichkeiten in einem Wolgadorfe, das manchmal über 1000 Einwohner hat, sind: der Pastor, der Obervorsteher, der Vorsteher, der Kolonieschreiber, der Küsterlehrer und der Lehrer. Dazu gehören wohl noch die Kaufleute und die Großwirte. [...]

Es ist geradezu wunderbar, wie rein sich dort die deutsche Sprache erhalten hat; zum Teil hört man sogar noch Mundarten, wie schwäbisch. In ihren Sitten sind die Kolonisten vollkommen deutsch geblieben.

Reisebericht des Oberlehreres J. Mühlbaum, zitiert nach: Theodor Baßler, Das Deutschtum in Rußland, München 1911, S. 20f.

3. Vom Bauern zum Industriellen

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Galerie: russlanddeutsche Industrie

1867 gründete der württembergische Zuckerbäcker Ferdinand Theodor Einem in Moskau die erste russische Fabrik für Schokolade und Konfekt. Seine Firma "Einem" belieferte bis 1913 den russischen Zarenhof. 1917 wurde Einem verstaatlicht und in "Krasnyj Oktjabr" umbenannt und ist unter diesem Namen bis heute in Russland bekannt. Das Bild zeigt Werbung der Firma Einem zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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Galerie: russlanddeutsche Industrie

Johann Höhn gründete 1886 in Odessa (heute Ukraine) eine Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen. Er lieferte seine Pflüge nach ganz Südrussland. 1917 wurde er enteignet. Das Bild zeigt eine Werbeanzeige der Firma von 1896.

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Galerie: russlanddeutsche Industrie

Peter Lepp gründete 1850 in Südrussland eine Fabrik für landwirtschaftliche Geräte. Zusammen mit seinem Schwiegersohn Andreas Wallmann führte er das Unternehmen als "Handelshaus Lepp & Wallmann". Auch diese Firma wurde 1917 verstaatlicht. Noch heute werden in einer ihrer früheren Filialen in Zaporzje (Ukraine) PKWs hergestellt.

Selbstverwaltung, großer Landbesitz, harte Arbeit und Sparsamkeit: Diese Kombination führte bei den Russlanddeutschen schnell zu wachsendem Wohlstand. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die meisten ihre Schulden beim russischen Staat abbezahlt, die sie für den Umzug nach Russland aufgenommen hatten. Nun fragten sich einige: Wohin mit dem Geld?

Übermäßiger Konsum und Luxus passten nicht zu ihren religiösen Überzeugungen. In den Dörfern hätte ein solches Verhalten auch niemand geduldet. Was also mit dem Geld anstellen? Hinzu kam das Bedürfnis der Siedler, ihre Landwirtschaft technisch zu verbessern. Geräte wie verbesserte Pflüge, Mähmaschinen u.ä. waren in ihrer russischen Umgebung aber nicht zu bekommen. Man musste sie also entweder teuer in Deutschland kaufen und in die Siedlungen transportieren lassen oder man stellte sie vor Ort selber her.

Genau dabei half das angesammelte Kapital: Viele Russlanddeutschen gründeten Industriebetriebe, nicht nur zur Herstellung von Landmaschinen, sondern auch zur Produktion von anderen Gebrauchsgegenständen. Mit ihren Produkten versorgten sie nicht nur die anderen Siedler, sondern bald auch die russische Bevölkerung. 1911 kam beispielsweise die Hälfte der in Russland gebauten Landmaschinen aus russlanddeutschen Betrieben.

Tabelle 2 Beschäftigung von Russlanddeutschen und Russen im Vergleich (nach russischer Volkszählung im Jahr 1897)
BeschäftigungRusslanddeutsche (Angaben in %) Russen (Angaben in %)
Verwaltung0,590,93
Kirche0,160,64
Handel, Banken2,332,62
Agrarbereich77,9178,61
Handwerk, Industrie12,857,56
Zusammengestellt auf Basis von: http://elib.shpl.ru/nodes/12632 und http://www.demoscope.ru/weekly/ssp/census.php?cy=0 [14.02.2025].

Quelle 3

Über den Einfluss der deutschen Kolonisten auf die Wirtschaft

"[Die Landwirtschaft der deutschen Kolonisten] arbeitete […] sich allmählich empor und diente in mancher Hinsicht als Muster für die umgebende russische Bevölkerung. […]

Im Laufe der Zeit wurden die alten landwirtschaftlichen Geräte, die, wie wir gesehen haben, schon von vornherein um vieles besser waren als die der russischen Bevölkerung immer mehr verbessert oder durch neue ersetzt. Bald wurden im ganzen Lande solche Geräte wie Worfelmaschinen, Ausreitsteine bekannt, die von den deutschen Kolonisten selbst hergestellt wurden. […] Die landwirtschaftlichen Geräte der deutschen Wirtschaft sind viel praktischer […]

Den nützlichen Einfluß der deutschen Wirtschaft auf die russische kann man in vielen Fällen beobachten Die deutschen Arbeitsmethoden sowie Einführung deutscher Geräte, Wirtschaftsgebäude fanden große Verbreitung bei den russischen Bauern. Durch die deutschen Kolonisten verbreiteten sich einige landwirtschaftliche Kulturen, wie die Senfkulturm Tabak- und Kartoffelbau. […]

Getreideexport aus der Wolgadeutschen Republik: Von dem im Jahre 1925 in der Wolgadeutschen Republik erzielten Ernteertragsüberschuß von rund 4 000 000 Pud Weizen und Roggen entfallen 2 300 000 Pud auf den Export nach dem Auslande."

Worfelmaschine: Eine Worfelmaschine trennt die sprichwörtliche 'Spreu vom Weizen'. Nachdem Getreide vom Feld geerntet wurde, wird es zuerst gedroschen, um die Getreidekörner aus ihren Hüllen zu lösen. Übrig bleiben die leeren Hüllen (die Spreu) und die Körner. Eine Worfelmaschine siebt die Spreu aus und lässt nur die Körner übrig.

Pud: russische Gewichtseinheit, entspricht 16,36 Kilogramm

Aufgabe 1

Erläutere den Zusammenhang zwischen den Wertvorstellungen der Russlanddeutschen und ihrem wirtschaftlichen Erfolg.
Bereite dazu eine Präsentation vor.